Prof. Dr. Bernhard Kulzer

Künstliche Intelligenz, Big Data

Diagnostik, Überwachung, Therapie etc.: Künstliche Inteligenz (KI) ist in der Corona-­Pandemie genauso wenig wegzudenken wie in der Diabetologie. Vielmehr ist sie schon integraler Bestandteil und aus der Forschung wie aus der klinischen Praxis nicht wegzudenken. Dies ist unumkehrbar: KI wird immer stärker die Diabe­to­logie wie überhaupt die Medizin prägen.

In der mittlerweile mehr als 50-jährigen Geschichte der künstliche Intelligenz (KI bzw. AI) gab es nach der Euphorie der 1960er/70er-Jahre in den 1980er-Jahren eine gewisse Ernüchterung, da die großen Erwartungen an die neuen Technologien sich in der Praxis nicht erfüllten. Diese Epoche wird daher auch die Phase des „Winterschlafs der KI“ genannt. Überzeugt davon, dass KI nicht nur etwas für Theo­retiker ist, sondern es auch praktische Anwendungen gibt, hat erst der Sieg des IBM-Rechners Deep Blue 1997 im Schachspiel gegen den damaligen Schachweltmeister Gar­ri Kasparow und ab 2002 der erstmalige kommerzielle Erfolg von Robotern zum Staubsaugen (­Trilobite, Roomba > 20 Mio. verkauft) das Interesse wieder erwachen lassen.

Das Jahr 2020 wird sicher als das Jahr in die Geschichte der KI eingehen, in dem erstmals in sehr großem Umfang Anwendungen der künstlichen Intelligenz im Gesundheitswesen Einzug hielten. Die Corona-Pandemie hat dies bestärkt und gezeigt, dass bei einer Pandemie, bei der schnelle Lösungen gefunden werden müssen, Anwendungen mit KI deutlich im Vorteil sind.

Mehrere Metaanalysen und systematische Reviews [Li 2020, Raza 2020] fassen die Ergebnisse zu den verschiedenen KI-Anwendungen zusammen und zeigen deutlich, in welcher Breite diese Anwendungen im Kampf gegen ­COVID-19 erfolgreich eingesetzt werden und fasst schon eine Art „Blaupause“ für Entwicklungen in der Diabetologie sind.

KI-Anwendungen bei COVID-19

1) Frühzeitige Erkennung und Diagnose der Infektion: KI-Anwendungen wurden z. B. trainiert, um aufgrund von Mustern des Sprechens oder Hustens COVID-19 zu erkennen. Bei Aufnahmen mit Husten (was zukünftig über ein Smart­phone per App geschehen soll) konnten Forscher anhand der KI-Analyse von Hustenmustern sowie aufgrund der Faktoren Stimmbandstärke, Lungenfunktion, Gefühlszustand und Muskelabbau mit einer erstaunlichen Trefferquote Husten korrekt Gesunden oder Erkrankten zuordnen: Bei Infizierten ohne Symptome gelang dies zu 100 Prozent, bei COVID-19-­Patienten mit Symptomen lag die Trefferquote bei 98,5 Prozent [Laguarta 2020]. KI wird auch erfolgreich eingesetzt zur Dia­gnose von COVID-19-Fällen und zur Identifizierung von COVID-19-Verdachtsfällen auf der Basis von Röntgen-, Computertomographie- oder Magnetresonanztomographie-Bildern, Labortests oder Genomsequenzen.

  • Auch in der Diabetologie wird KI zukünftig immer mehr als Screeninginstrument zur Diagnose des Diabetes, von Gestationsdiabetes und Begleit- und Folgeerkrankungen eingesetzt.

2) Prognose und Überwachung der Behandlung: Künstliche Intelligenz wird auch dazu genutzt, um nicht nur die Risiken der Infektion zu bestimmen, sondern auch anhand der verfügbaren Daten den weiteren Verlauf zu prognostizieren. Dies ist besonders dann wichtig, wenn mehrere Risikofaktoren vorliegen wie Dia­be­tes, Adipositas, Hypertonie, kardiovaskuläre Erkrankungen oder Alter. KI-Applikationen wurden auch eingesetzt, um die Chancen, Risiken, den richtigen Zeitpunkt und die Dauer einer Beatmung abzuschätzen und eine Mortalitäts­pro­gnose abzugeben.

  • KI wird auch in der Diabetologie immer mehr dazu genutzt, Subgruppen des Diabetes zu identifizieren, die Prognose der Erkrankung zu verbessernd und zu individualisieren und personalisierte Therapieoptionen zu entwickeln.

3) Entwicklung von Impfstoffen: Im großen Stil wurde KI auch dazu genutzt, um in kurzer Zeit Impfstoffe zu entwickeln, molekulare Modellierungen zu berechnen, Auswirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten vorherzusagen oder die Umwidmung von schon zugelassenen Medikamenten zu untersuchen. In relativ vielen Studien wurde KI auch zur Vorhersage der Proteinstruktur von SARS-CoV-2 und Antikörpern benutzt. KI-Technologie hatte gerade zu Beginn der Pandemie den großen Vorteil, dass die Testung von Impfstoffen dadurch deutlich beschleunigt wurde. Dieser zeitliche Vorteil durch KI half nicht nur bei der raschen Entwicklung von Impfstoffen, sondern auch bei der Durchführung klinischer Studien zum Testen der Wirkung und Nebenwirkungen. Mittlerweile wird KI auch für die rasche Distribution des Impfstoffs unter den speziellen Bedingungen der Sorte (z. B. Kühlung) verstärkt eingesetzt.

  • Auch in der Forschung von Diabetesmedikamenten und neuer Technologien wird verstärkt KI eingesetzt, um die Entwicklungszeiten zu reduzieren und Kosten einzusparen.

4) Epidemiologie, Prognose: Da das Virus sich rasch ausbreitet und in kurzer Zeit immense Datenmengen von sehr vielen Menschen analysiert werden müssen, sind KI-Anwendungen schon jetzt unverzichtbar. Zum einen, um den Verlauf der Pandemie, die Dynamik des Virus und das Verbreitungsmuster unter der Annahme vielfacher Ausgangsbedingungen und Szenarien vorherzusagen und zu modellieren – zum anderen, um die Merkmale, Ursachen und Gründe für die Ausbreitung von Infektionen zu identifizieren oder beispielsweise den Bedarf an Betten und medizinischem Fachpersonal während der Krise vorherzusagen. Da vorab in dieser Situation nicht auf gesicherte Daten der Pandemie zurückgegriffen werden kann, sind KI-Anwendungen prädestiniert, große Datenmengen zu analysieren, fortlaufend daraus zu lernen und mithilfe neuronaler Netzwerke immer bessere „Was-wäre-wenn-Szenarien“ zu berechnen und genauere Vorhersagen zu treffen. Dadurch können leichter Cluster und „Hotspots“ identifiziert werden, die Erfolge von Maßnahmen (z. B. Kontaktverfolgung von Risikopersonen, Ausgangssperren) analysiert und der zukünftige Verlauf von COVID-19 in bestimmten Regionen vorhergesagt werden. Auch die sozioökonomischen und psychischen Auswirkungen der Krise können durch KI-Anwendungen und das Gewinnen immer besserer Datensätze gemonitort, analysiert und vorhergesagt werden.

  • Bei Diabetes handelt es zwar nicht um eine Pandemie, aber auch Typ-2-Diabetes verbreitet sich weltweit in kurzen Zeitabständen immer stärker. Da viele Faktoren hierfür verantwortlich sind, bekommen KI-Modelle immer mehr Bedeutung, um die verschiedenen Einflussfaktoren zu analysieren und um bessere Prognosen zu bekommen.

5) Corona-App: Fast alle weltweit eingesetzten Corona-Apps basieren auf Prinzipien der künstlichen Intelligenz. Deren Ergebnisse können – je nach Datenschutzrecht und jeweiligem gesellschaftlichen Konsens – nicht nur zur Warnung vor möglicherweise mit COVID-19 infizierten Menschen eingesetzt werden: Sie werden auch zur Analyse der Echtzeitergebnisse, zur Berechnung von Trends und möglichen Corona-Clustern genutzt.

  • Apps spielen schon heute ein große Rolle in der Diabetologie und werden zukünftig durch „Diabetes-Apps auf Krankenschein“ und immer mehr Steuerungs- und Analysefunktionen von Medizinprodukten per App immer mehr an Bedeutung zunehmen.

6) Roboter: Durch COVID-19 sind weltweit Robotersysteme mit KI im Aufwind. Roboteranwendungen werden in Krankenhäusern, Altenheimen, im Transportwesen, auf Flughäfen oder in Hotels in vielfältiger Weise eingesetzt, um ein Minimum an menschlichem Kontakt und ein Maximum an Sicherheit vor potenziellen Ansteckungsmöglichkeiten zu gewährleisten. Roboter helfen schon heute bei der Sterilisation im öffentlichen Bereich, der Auslieferung von Materialien zur Bekämpfung der Pandemie, der Messung der Körpertemperatur oder der Entnahme von Proben von ­COVID-19-Patienten.

  • Der Computer „Pepper“ mit vielen Funktionen zur Unterstützung des Wissens und Diabetesmanagements wurde schon erfolgreich in Deuschland entwickelt. Robotersysteme werden zukünftig besonders als Assistenzssysteme für ältere Menschen mit Diabetes und in der Pflege Einsatz finden.

KI-Anwendungen bei Diabetes

2020 kann auch als das Jahr gelten, in dem im Bereich Diabetes immer mehr KI-Anwendungen nicht nur erforscht, sondern auch zunehmend angewendet werden. So werden z. B. mittlerweile weltweit KI-Systeme zum automatisierten Screening der diabetischen Retinopathie eingesetzt. Auch zur Prognose des Glukoseverlaufs und für die Weiterentwicklung von AID-Systemen werden immer häufiger KI-Anwendungen verwendet. Relativ viele Apps nutzen mittlerweile künstliche Intelligenz. Egal, ob KI zur Früherkennung des Typ-2-Diabetes oder zu personalisierten Therapien beiträgt: KI-Systeme erweitern die Möglichkeiten der Diabetologie ganz erheblich und sind schon heute nicht mehr aus dem diabetologischen Behandlungsspektrum wegzudenken.

Unter dem Titel „Transforming Diabetes ­Care Through Artificial Intelligence: The Future is Here” veröffentlichte die Arbeitsgruppe um Dankwa-Mullan et al. [Dankwa-Mullan 2019] ein systematisches Review zu dem Themenbereich „Diabetes“ und „künstliche Intelligenz“. Die insgesamt 450 Studien, die den Einschlusskriterien der Autoren entsprachen, geben ein ganz gutes Bild ab, in welchen Bereichen besonders viel geforscht wird:

  1. Prädiktive Populations-Risikostratifizierung: Identifizierung von Diabetes-Subpopulationen mit z. B. höherem Risiko für Komplikationen, Krankenhausaufenthalten und Wiederaufnahmen (135 Artikel).
  2. Klinische Entscheidungssysteme: Erkennung und Überwachung von Diabetes und Komorbiditäten wie Neuropathie, Nephropathie, diabetischer Fuß etc. (126 Artikel).
  3. Automatisches Netzhaut-Screening: Erkennung von diabetischer Retinopathie, Makulopathie, Exsudaten etc. (96 Artikel).
  4. Patienten-Selbstmanagement-Tools: KI-verbesserte Glukosesensoren, künstliche Bauchspeicheldrüse, Integration externer Daten wie Fitness-Tracker etc. (94 Artikel).

Die Autoren schlussfolgern, dass die veröffentlichten Studien nahelegen, dass KI ein erhebliches Potenzial zur Verbesserung von Screening, Diagnose, des Diabetes-Managements und der Prognose von Menschen mit Diabetes hat.

Vorteil von KI-Anwendungen

Sehr anschaulich verdeutlichen Buch, Varughese und Maruthappu [Buch 2018] die Vorteile von KI-unterstützten Anwendungen anhand der Auswertung eines Datensatzes zur Risiko­strati­fizierung von Problemen im Zusammenhang mit einem Krankenhausaufenthalt und den Variablen HbA1c und Alter. Sie wendeten ein klassisches statistisches Verfahren der linearen Regressionsanalyse zum Erfassen eines linearen Zusammenhangs zwischen den verschiedenen (abhängigen und unabhängigen) Variablen und Methoden des maschinellen Lernens an. Damit wird versucht, eine möglichst gute „Grenze“ bzw. „Linie der besten Anpassung“ zwischen einem niedrigen und einem hohen Risiko für Komplikationen bei einem Krankenhausaufenthalt zu ziehen. Wird eine Technik des maschinellen Lernens (Gauss mixture modelling) verwendet, kann z. B. eine Gruppe älterer Menschen mit niedrigem HbA1c identifiziert werden, die anscheinend ebenfalls ein erhöhtes Risiko für klinische Probleme während des Klinikaufenthalts aufweisen, die durch das lineare Regressionsmodell nicht identifiziert worden wären.

Im Gegensatz zu etablierten statistischen Verfahren hat die KI-Forschung maschinelle Lerntechniken entwickelt, die sehr große Datensätze mit vielfältigen, nicht linearen Beziehungen analysieren und modellieren können. Zugute kommt der KI-Forschung, dass durch die Digitalisierung immer größere und besser strukturierte Datenmengen zur Verfügung stehen, die zum „Trainieren“ der KI-Modelle gut geeignet sind. Diese können beispielsweise aus Studien stammen (z. B. die Daten der ACCORD-Studie wurden wiederholt zur Entwicklung von KI-Modellen verwendet), zunehmend auch von elektronischen Patienten- oder Fallakten oder anderen großen Datensätzen (z. B. Krankenversicherungsdaten).

Prävention

KI-Anwendungen werden sowohl zur primären, sekundären wie auch tertiären Prävention des Diabetes eingesetzt. Diese haben bei der primären Prävention des Typ-2-Diabetes das Ziel, Personen mit einem erhöhten Risiko für Typ-2-Diabetes oder einen bereits bestehenden Typ-2-Diabetes zu identifizieren, als auch, bessere Therapieoptionen zur Prävention des Typ-2-Diabetes zu schaffen. Hierbei kann die Integration unterschiedlicher Datenquellen (wie Bewegungs-, Ernährungs-, Schlaf-, Stressdaten) helfen, dem Patienten ein Feedback über das aktuelle Verhalten, aber auch erfolgreiche Verhaltensveränderungen zu geben. Häufig werden dazu Smartphone-Applikationen verwendet, die zum einen die KI-Funktionen des Smartphones benutzen (z. B. Spracherkennung, Fotos, Navigation), die aber auch über Schnittstellen diese Daten cloudbasiert abspeichern, um sie dann weiter zu analysieren.

Zur sekundären Prävention stehen eine ganze Reihe von KI-Risikorechnern zur Verfügung, die eine Abschätzung des Risikos für Akut- oder Folgekomplikationen des Diabetes ermöglichen.

  • Ein sehr gutes Beispiel für die Erfassung des Risikos nächtlicher Hypoglykämien ist die Arbeit von Porumb et al. [Porumb 2020]: Zwar ist bekannt, dass Hypoglyk­ämien die Elek­tro­physiologie des Herzens beeinflussen, allerdings konnte wegen der starken interpersonellen Heterogenität der Daten eine elektrokardiogrammbasierte Hypoglyk­ämie­erkennung nicht zuverlässig eingesetzt werden. In der aktuellen Studie verwendet die Arbeitsgruppe einen Ansatz der personalisierten Medizin und KI, um nächtliche Hypo­glykämien automatisch zu erkennen. Sie konnten dabei identifizieren, welcher Teil des EKG-Signals (z. B. T-Welle, ST-Intervall) bei jedem Probanden individuell mit dem Hypoglyk­ämie-Ereignis assoziiert ist. Die Ergebnisse könnten zu einem nicht invasiven Hypo­glyk­ämie-Alarm­system in Echtzeit unter Verwendung kurzer Ausschnitte des EKG-Signals führen.
  • Basierend auf den Daten von 3 715 Patienten mit Hyperglykämien in der Notaufnahme eines Krankenhauses entwickelten Hsu et al. [Hsu 2020] ein KI-Vorhersagemodell, um die weitere Prognose dieser Patienten vorherzusagen. Unter Verwendung eines MLP-Modells betrug die Fläche unter den Kurven (AUCs) 0,808 für eine Sepsis oder einen septischen Schock, 0,688 für die Aufnahme auf die Intensivstation und 0,770 für die Gesamtmortalität. Als Folge der Studie wurde das KI-Modell in das Krankenhausinformationssystem integriert, um den Ärzten bei der Entscheidungsfindung in Echtzeit zu helfen.

Als ein gutes Beispiel für die Anwendung der KI zur tertiären Prävention kann die Arbeit von Mezzatesta et al. [Mezzatesta 2019] gelten: Sie hatte zum Ziel, mit Techniken des maschinellen Lernens (Support Vector ­Machine) kardiovaskuläre Erkrankungen bei Dialysepatienten vorherzusagen. Hierzu nutzten die Autoren die Daten von zwei großen italienischen und amerikanischen Studien. Es gelang ihnen, in einem Zeitraum von 2,5 Jahren das Auftreten einer ischämischen Herzkrankheit mit dem KI-Modell beim italienischen Datensatz mit einer Genauigkeit von 95,25 Prozent und beim amerikanischen Datensatz von 92,15 Prozent vorherzusagen.

Diagnostik

Mittlerweile gibt es für fast jede Begleit- und Folgeerkrankung des Diabetes KI-unterstützte Diagnostikverfahren, die auch immer mehr in den klinischen Alltag Einzug finden:

  • Eine kaum noch zu überschauende Literatur gibt es zum Screening und der Diagnostik der Retinopathie, die mittlerweile mit einer sehr guten Sensitivität und Spezifität durch KI erfolgen kann. Nach Zulassung des Systems IDx-DR im Jahr 2019 durch die Food and Drug Administration (FDA) und die European Medicines Agency (EMA) werden solche Systeme mittlerweile von mehreren Herstellern kommerziell angeboten. Neben der diabetischen Retinopathie gibt es auch KI-unterstützte Diagnostik für andere Augenerkrankungen wie die Makuladegeneration, das Glaukom, die altersbedingte oder angeborene Katarakt und retinalen Venenverschluss. Vor allem in ärmeren Ländern oder Staaten mit einer geringen Bevölkerungsdichte und weiten Entfernungen zu medizinischen Einrichtungen ist die KI-unterstützte Diagnostik – für die teilweise nur ein einfacher Aufsatz für das ­Smartphone benötigt wird – eine gute Möglichkeit für ein Retinopathie-Screening [Bellemo 2019]. Die Systeme können danach unterschieden werden, ob sie von einem Augenarzt genutzt werden, von anderen Ärzten oder von Laien. Es gibt sowohl Systeme zum Screening als auch zur Diagnosestellung. In Deutschland engagiert sich beispielsweise mit eye2you ein internationaler Spin-off der Universität Tübingen und der Universität Seoul für ein einfaches Retinopathie-Screening zum Beispiel beim Hausarzt. Sie gehören auch zu den diesjährigen Finalisten des bytes4diabetes Awards 2021.
  • Eine interessante KI-Anwendung zur Diagnostik einer diabetischen Nephropathie wurde durch die Arbeitsgruppe von Kitamura et al. [Kitamura 2020] entwickelt: Sie können mithilfe einer KI-unterstützten Analyse von Immunfluoreszenz-Bildern eine Nephropathie diagnostizieren. Auf der Basis von 885 Patienten mit Nierenbiopsie erstellten sie einen Datensatz mit sechs Arten von Immunfluoreszenz-Bildern (IgG, IgA, IgM, C3, C1q und Fibrinogen) und untersuchten diese mit verschiedenen KI-Programmen. Fünf Programme diagnostizierten die Nephropathie aufgrund von Immunfluoreszenz-Bildern vollständig korrekt (AUC: 1,00) und waren damit der Diagnose von Nephrologen auf der Basis des klinischen Verlaufs, klinischer Labordaten und der Nierenpathologie überlegen (AUC: 0,76).

Personalisierte Therapie

Trotz der bekannten Heterogenität von Typ-1- und Typ-2-Diabetes, der hohen Variabilität des Glukoseverlaufs und der bekanntermaßen unterschiedlichen Wirkung blutzuckersenkender Medikamente auf die glykämische Kontrolle basieren die aktuellen Erkenntnisse zur Diabetestherapie überwiegend auf durchschnittlichen Effekten in klinischen Studien, nicht aber auf individuellen Merkmalen. In den letzten Jahren hat künstliche Intelligenz dazu beigetragen, Subtypen der Erkrankung zu identifizieren, die hinsichtlich Ätiologie, klinischer Merkmale und Prognose recht unterschiedlich sind. In einer Übersichtsarbeit berichtet John [John 2020] über die bisherigen Ergebnisse, mithilfe von KI Prädiktoren für die unterschiedliche Ansprache auf Medikamente zu gewinnen. Er zeigt auf, dass es klinisch relevante Unterschiede in der Schnelligkeit der Wirkung, der Stärke der Medikamentenwirkung und der Nebenwirkungen bei allen gängigen Medikamenten bei Typ-2-Dia­betes gibt.

KI-Anwendungen zur Dia­gnostik einer diabetischen Nephropathie waren der Diagnose von Nephrologen überlegen.

Maharjan et al. [Maharjan 2019] wählten einen ganzen anderen personalisierten Ansatz, indem sie für einige Personengruppen sprachbasierte und KI-gesteuerte, personalisierte virtuelle Diabetes-Assistenten (Alexa) vorschlugen, um die Patienten bei ihrem Diabetesmanagement im Alltag zu unterstützen. „Alexa Diabetes“ soll aus den Gewohnheiten, Eingaben oder Fragen der Nutzer lernen, sodass der Nutzer im Lauf der Zeit eine immer bessere Unterstützung bekommt.

Entscheidungssysteme

Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme für Ärzte wie auch für Patienten, die darauf abzielen, klinische Entscheidungen bei Diabetes zu unterstützen und zu verbessern, arbeiten schon seit Langem mit KI. Die Beispiele reichen von „Expertensystemen“, die auf Regeln basieren, die entweder von Menschen oder durch KI extrahiert wurden, bis zu KI-Modellen, die menschliches Denken kopieren und eigenständig Schlussfolgerungen ziehen und neue Vorschläge machen.

Wie Tyler und Jacobs [Tyler 2020] in einem sehr guten Übersichtsartikel ausführen, gibt es auf Patientenseite mittlerweile eine Vielfalt von Systemen und unterschiedlichen KI-Methoden, um Patienten bei ihrer Therapie zu unterstützen. Für fast alle Bereiche der Therapieplanung und -durchführung (z. B. Ernährung, Sport, Medikamente, Insulindosierung mit Langzeit- und/oder Bolusinsulin, Fehlererkennung) gibt es bei Therapieentscheidungen KI-unterstützte Entscheidungshilfen. Die Spanne der Angebote reicht bis hin zu komplexen, selbststeuernden AID-Systemen, bei denen viele Therapieentscheidungen durch Algorithmen gesteuert werden.

Auch auf Seiten der Ärzte gibt es unterschiedliche Expertensysteme, die sich nach der Barcelona-Erklärung für die sachgerechte Entwicklung und Nutzung von KI in Europa in wissensbasierte KI-Modelle und datengetriebene KI-Anwendungen unterscheiden lassen: Wissensbasierte Methoden sind gut etabliert, aber weniger in der Lage, große Datenmengen zu nutzen und automatisch ein Wissensmodell durch Generalisierung aus den Daten selbst zu erstellen. Tatsächlich werden Wissensmodelle oft noch von Menschen entwickelt und daher oft von Anwendern wie Ärzten bevorzugt, da sie zumeist von erfahrenen Spezialisten entwickelt wurden.

Dank immer größerer Mengen an elektronisch verfügbaren Daten und der Weiterentwicklung von KI-Methoden sind in der Regel datengetriebene KI-Anwendungen objektiv überlegen. Für die Umsetzung sollten diese allerdings an den Praxisablauf und Workflow von Ärzten angepasst werden, damit diese auch tatsächlich regelhaft in der Praxis Anwendung finden. Besonders der Integration von Expertensystemen auf der Basis evidenzbasierter Leitlinien wird ein großes Potenzial zugeschrieben, um die häufig vorzufindende „Clinical inertia“ zu überwinden [Karam 2020].

KI zur Steuerung von Glukoseverläufen

Eine sehr wichtige Rolle spielen KI-Anwendungen auch bei der Entwicklung von adaptiven Steuerungsalgorithmen – mit dem Ziel, noch bessere AID-Systeme zu entwickeln. Aufgrund der großen Menge und Vielfalt von Daten, die von Patienten allein schon durch CGM und die Insulinpumpe gesammelt werden, werden zur besseren Steuerung des Glukosestoffwechsels zunehmend Techniken der künstlichen Intelligenz eingesetzt. Die „nächste Generation von AID-Systemen“ soll individuelle Muster bei der Glukosesteuerung und Therapie automatisch erkennen, daraus lernen und selbstständige Schlussfolgerungen zur selbststeuernden Therapieadaptation ziehen.

Zusätzlich zielen einige Weiterentwicklungen auch darauf ab, mehr Daten aus unterschiedlichen Quellen (z. B. Ausmaß an körperlicher Bewegung, Schlaf, Menstruation, Stress) in die Vorhersagemodelle zu integrieren. Eine weitere Möglichkeit zur Optimierung der Algorithmen durch KI-Modelle besteht darin, dass diese aus personalisierten Daten aus der Vergangenheit lernen, um die zukünftige Entwicklung der Glukose für einen bestimmten Zeithorizont vorherzusagen und einer zu großen Glukosevariabilität proaktiv entgegenzusteuern bzw. diese abzumildern. Dieses Ziel wird z. B. mit dem Ansatz der dynamischen regularisierten latenten Variablenregression (DrLVR) erreicht, mit der aufgrund von Störungen und Fehlern aus der Vergangenheit zukünftige Glukoseverläufe noch besser gesteuert werden sollen [Vettoretti 2020].

Chancen und Risiken abwägen

Trotz aller Euphorie um die künstliche Intelligenz gilt es, auch die Limitationen dieser Ansätze zu sehen: z. B. mangelnde Überprüfbar- und Vergleichbarkeit von KI-Modellen, Probleme der Transparenz der KI-Modelle zur Entscheidungsfindung, Datenschutzprobleme, Haftungsaspekte. Zudem darf auch nicht vergessen werden, dass mit KI die Therapie mit allen möglichen Konsequenzen selbst gesteuert werden kann, was auch zu Nachteilen und Schäden führen kann. Je mehr KI-Ansätze im Bereich Diabetes tatsächlich immer mehr Therapierealität werden, desto wichtiger wird eine intensive gesellschaftliche Debatte über die Chancen und Risiken von künstlicher Intelligenz – und ethische, haftungs- und datenschutzrechtliche Fragen müssen geklärt werden. Denn eines ist sicher: KI ist jetzt schon ein integraler Bestandteil der Diagnostik und Therapie des Diabetes und aus der Forschung wie aus der klinischen Praxis nicht mehr wegzudenken. Und ein weiteres ist auch sicher: Dies ist ein unumkehrbarer Prozess, und es ist davon auszugehen, dass KI immer stärker die Diabetologie prägen wird.


Quellen:

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Autor:

Prof. Dr. Bernhard Kulzer
Forschungsinstitut Diabetes-Akademie Bad Mergentheim (FIDAM), Diabetes Zentrum Mergentheim, Theodor-Klotzbücher-Straße 12, 97980 Bad Mergentheim