Dr. Andreas Lueg, Dr. Nikolaus Scheper

Die diabetologische Praxis der Zukunft

Digitaler Terminplaner, nur ein Klick zu den Behandlungsdaten des Krankenhauses, eine funktionierende nationale Gesundheitsakte, ein elektronischer Arztbrief, der sich weitgehend selbst schreibt: Wie schön, wenn man dies nicht nur nachts träumen, sondern im Alltag in seiner Praxis erleben könnte.

Ich komme morgens in die Praxis. Heute sind für mich 42 Patienten im digitalen Terminplaner vorgesehen. Die ersten Patienten sind schon in der Praxis und haben beim Einlesen der Versichertenkarte auch automatisch alle neuen Dia­gnosen, die andere Ärzte gestellt haben, auf unser System übertragen, ebenso die zwischenzeitlich von anderen verordneten Medikamente usw. Frau M., die gerade vorn an der Anmeldung steht, ist umgezogen. Beim Stammdatenabgleich, der seit Jahren völlig fehlerfrei funktioniert, wird die neue Adresse auf die Karte übertragen, diese Daten werden auch direkt in unserer Praxisverwaltungssoftware und in der zen­tralen Patientenakte aktualisiert.

Bei der Software handelt es sich um eine reine Basis-Verwaltungssoftware, mit der vor allem die Mitarbeiter an der Anmeldung und im Back­office arbeiten. Die medizinischen Daten werden über ein eigenes intelligentes Frontend bearbeitet, das je nach Diagnose und Besuchsanlass die notwendigen Informationen übersichtlich darstellt.
Mein erster Patient kommt gerade aus dem Krankenhaus. Was genau dort mit ihm gemacht wurde, weiß er nicht. Allerdings seien mehrere neue Medikamente angesetzt worden. Die Liste aus dem Krankenhaus hat er aber leider nicht dabei.

Früher wäre dies ein GAU gewesen: neue Diagnosen und Therapien –
aber welche? Ein Anruf im Krankenhaus hätte wahrscheinlich ergeben, dass der Brief noch nicht fertig sei … und der behandelnde Kollege in Urlaub.

Früher wäre dies ein GAU gewesen: neue Dia­gnosen und Therapien – aber welche? Damals hätte ein Anruf im Krankenhaus wohl ergeben, dass der Brief noch nicht fertig sei … und der behandelnde Kollege seit gestern in Urlaub. Wichtige andere Themen wären auf der Strecke geblieben, weil viel Zeit für das Zusammentragen der notwendigen Informationen vergeudet würde.

Heute ist alles ganz einfach: Ein Klick, und die Behandlungsdaten des Krankenhauses sind samt Medikamentenliste unmittelbar verfügbar. Ein Segen! Mein Bildschirm zeigt alle relevanten Therapiedaten und den Zielerreichungsgrad für die wichtigsten krankheitsbezogenen Therapieziele. Die Ergebnisse der Urinuntersuchung und die restlichen hier in der Praxis erhobenen Laborwerte sowie die Ergebnisse der Körpervermessung werden automatisch über die universelle Datenschnittstelle, die es seit einigen Jahren für alle Geräte in der Praxis gibt, in die Patientenakte übertragen. Ich erinnere mich noch dunkel an die Zeiten, als dies alles noch per Hand oder im günstigsten Fall mit irgendeiner Übertragungssoftware erfolgte, die regelmäßig den Dienst versagte.

Mein nächster Patient, Herr K., sitzt mit mir am Tisch und berichtet, dass er gut mit der gewählten Therapie zurechtkommt, er ist sehr gespannt, ob die Werte besser geworden sind.

Alle Zielparameter sind im grünen Bereich. Ich gebe Herrn K. den Blick auf den Bildschirm frei und zeige ihm den sehr erfreulichen Stand der Dinge. Die grafische Darstellung ist auch für Patienten selbsterklärend. Nach wenigen Sekunden können wir uns bereits den Fußbefunden zuwenden, die mit wenigen Klicks im System erfasst sind. Es bleibt noch etwas Zeit, über andere Punkte zu sprechen: Herr K. hat nach den Daten aus der zentralen Patientenakte noch keine Pneumokokken-Impfung, obwohl diese für sein Alter eigentlich längst erfolgt sein sollte. Ich spreche ihn darauf an und zeige ihm in der Übersicht, dass er alle wichtigen Impfungen zeitgerecht bekommen hat – bis eben auf die Pneumokokken-Impfung. Herr K. möchte diesen Punkt in seiner Akte auch gern abhaken und entschließt sich, sich noch heute impfen zu lassen.

Ein Klick, und alle Daten sind komplett in die nationale Gesundheitsakte übertragen, die auch den weiterbehandelnden Ärzten sofort und vollumfänglich zur Verfügung steht.

Die Therapieerfolgsgrafik und die vervollständigte Impfübersicht werden automatisch in seine nationale Gesundheitsakte übertragen, seine Patienten-App zeigt den grünen Haken, der besagt, dass aktuell alle relevanten Ziele erreicht sind. Auch der Impfstatus zeigt jetzt den begehrten grünen Haken! Noch schnell den elektronischen Arztbrief, der vom System weitgehend selbst erstellt wird, vervollständigen. Ein Klick, und alle Daten sind komplett in die nationale Gesundheitsakte übertragen, die den anderen weiterbehandelnden Ärzten sofort vollumfänglich zur Verfügung steht.

Vor vielen Jahren waren die ersten Versuche, eine elektronische Patientenakte zu schaffen, gescheitert. Man hatte damals die einzelnen Krankenkassen dazu verpflichtet, eine elek­tro­nische Patientenakte vorzuhalten. Diese war damals über 15 Jahre entwickelt worden und schon bei Fertigstellung in den 2020er-Jahren veraltet. Damals funktionierte noch nicht einmal die Basisfunktion, nämlich, die Personendaten der Versicherten über den Stammdatenabgleich zu aktualisieren. Weiter schickten alle Krankenkassen für viel Geld immer neue Versichertenkarten, wenn sich Adresse oder Versichertenstatus änderten. Viele Patienten hatten damals den Überblick verloren, welche Karte nun eigentlich die aktuelle war.

2020er: Sinn war raus aus dem Blick …

Damals profitierten vor allem unzählige Technik- und Dienstleistungsanbieter von der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Der Sinn der Digitalisierung, nämlich die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, war etwas aus dem Blick geraten. Unzählige Anbieter, noch mehr Tarife und Geräte und die fehlende Kommunikation der einzelnen Geräte untereinander erschwerten die Arbeit in der Praxis, statt sie zu erleichtern. Nicht wenige Ärzte, die alt genug waren, gingen damals vorzeitig in den Ruhestand, weil sie das Tohuwabohu nicht ertragen konnten.

Für uns Diabetologen wurde das Leben deutlich einfacher, als die gesetzliche Regelung für die universelle Schnittstelle in der Medizin erfolgte.

Dann konnte noch der Chaos-Computer-Club nachweisen, dass er ohne große Schwierigkeiten an die Daten der „elektronischen Patientenakte“ herankam. Nach dem Datendesaster, das all dem folgte, entschloss man sich dann doch, eine staatliche zentrale Patientenakte auf sicheren deutschen Servern einzuführen. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik wurde damals damit beauftragt, die nationale Gesundheitsakte zu realisieren. Andere Staaten, vor allem in ­Skandinavien, hatten dies schon Jahrzehnte vorher genauso gemacht. Aber Deutschland wollte damals unbedingt das Rad neu erfinden. All das ist schon sehr lange her, und nur die älteren Ärzte erinnern sich noch daran, dass der Praxis­alltag nicht selten durch Fehlersuche bei der EDV oder die abgestürzte Telematik-Infrastruktur oder auch nicht erfolgreiche Datensicherungen bestimmt war. Die Mitarbeiter verbrachten viele Stunden am Telefon, um die Praxis einige Straßen weiter zu erreichen, weil die Patienten nicht wussten, wie das neu verordnete Medikament hieß.

Heute ist alles ganz anders

Dies ist heute ganz anders: Für uns Diabetologen wurde das Leben auch deutlich einfacher, als die gesetzliche Regelung für die universelle Schnittstelle in der Medizin erfolgte. Danach konnte jedes Gerät mit der Praxis-EDV verbunden werden. Damit wurde damals auch die Monopolstellung einzelner EDV- und Medizin­technik-Giganten beseitigt. Es gab damals einen richtigen Entwicklungsschub, da auch alle Patienten-Devices plötzlich miteinander kommunizieren konnten: Insulinpumpen, Glukosesensoren sowie die notwendigen intelligenten Steuerungen. Dadurch wurde auch der Datenschutz immer besser. Die Patienten entschieden sich nämlich sehr bald für Geräte und Gerätekombinationen, bei denen sie selbst bestimmten, ob sie ihre Daten zur Auswertung durch die Anbieterunternehmen zur Verfügung stellen oder nicht. In wenigen Monaten entbrannte ein sehr positiver Wettbewerb um die beste Lösung, was die Entwicklung optimaler Devices sehr beschleunigte und auch viel zum Datenschutz beitrug. Wenn ich mich richtig entsinne, ging die erste Initiative zur Öffnung der Schnittstellen und der Kombinationsmöglichkeit aller Devices auf ­eine Entscheidung der damaligen amerikanischen Zulassungsbehörde FDA zurück.

Apropos Datenschutz: In diesen Jahren wurde auch die Kommunikation per E-Mail auf sichere Füße gestellt: Die damalige Bundesregierung führte die Verschlüsselung von E-Mails per elektronischem Personalausweis verpflichtend ein. Quasi über Nacht konnten alle E-Mail-Programme komfortabel verschlüsseln, fast ohne Zutun der User. Die Europäische Union beschloss, das deutsche Verfahren europaweit einzuführen, da es sich schnell bewährte. Damals waren aber weniger medizinische Probleme dafür ausschlaggebend, es war mehr die umfassende Industriespionage dieser Jahre, die Hunderttausende von Arbeitsplätzen in Europa kostete, da das ausspionierte Know-how anderswo genutzt wurde.

Oh, mein Arbeitsplatzrechner meldet sich: Der nächste Patient wartet! Ich habe doch etwas zu lange in den Erinnerungen geschwelgt. Frau F. macht mir schon seit einigen Wochen Sorgen. Sie hat diffuse Beschwerden, die sich nicht richtig zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Heute wird Frau F. sich für ca. eine halbe Stunde von unserem Diagnostik-System befragen lassen, danach wird dieses eine Auswahl wahrscheinlicher Diagnosen ausgeben. Die ersten Systeme dieser Art wurden für seltene Krankheiten um 2018 herum entwickelt. Mittlerweile wurde es auf unzählige andere Krankheiten und vor allem auch Arzneimittelnebenwirkungen ausgeweitet. In der Zwischenzeit widme ich mich einem weiteren Patienten …

Zurück zu Frau F.: Es gibt fünf wahrscheinliche Diagnosen, diese werden nach Relevanz sortiert und mit den zur Auswahl führenden Kriterien versehen dargestellt. Die beiden letzten Diagnosen verwerfe ich, da mich die Auswahlkriterien nicht überzeugen. Die zweite Diagnose passt, darauf hätte ich auch selbst kommen können. Ich hatte wohl nicht die richtigen Fragen gestellt. Die elektronische Anmeldung bei weiterbehandelnden Spezialisten ist schnell erfolgt. Alle relevanten Daten stehen in der nationalen Gesundheitsakte der Patientin. Frau F. ist froh, dass sie nunmehr endlich eine Diagnose für ihre Beschwerden hat und zielgerichtet behandelt werden kann.

Gelenkte ärztliche Eigenfürsorge

Wieder der Arbeitsplatzrechner: „Ihre Bildschirmarbeitszeit überschreitet den zulässigen Zeitrahmen – bitte machen Sie zunächst Ihre Augenübungen!“ Augenübungen? Auch so eine tolle neue Errungenschaft: nicht nur mehr Zeit für die eigentlichen Probleme und Fragestellungen der Patientinnen und Patienten, sondern auch Zeit für mehr Eigenfürsorge und Gesunderhaltung des behandelnden Teams!

Griingg! Griingg! Griingg! – Was ist denn nun los? Wo bin ich? Ich höre die Stimme meiner Frau: „Guten Morgen! Du musst aufstehen!“ Ich realisiere, dass ich alles nur geträumt habe! Aber ein schöner Traum! Es wäre toll, so arbeiten zu können! Oder? …

Realität 2021 sieht anders aus. Leider.

Leider hat das soeben Gelesene/Geträumte noch nicht so viel mit der Realität in Deutschland 2021 zu tun. Insbesondere das Thema Inter­operabilität bei den unterschiedlichen Angeboten der Industrie und der Dienstleister fällt uns Diabetologen, die wir aktuell weit vorne sind bei der Digitalisierung, immer wieder auf die Füße. Wir sind als datengetriebene Fachgruppe auf die digitale Verarbeitung von Daten, Aufträgen und auch Dienstleistungen angewiesen, haben dazu immer wieder gute Ideen und konkrete Vorstellungen. Die konkrete ­Umsetzung ist uns dann aber häufig nicht gut genug, weil es u. a. neben den manchmal widersprüchlichen Regulierungsbestimmungen in der Praxis immer noch keine einheitlichen Standards und Vorgehensweisen gibt. Insbesondere die großen Industriepartner sind nicht in der Lage und willens, sich von den Gedanken an Marktanteile zu trennen.

Und die große Politik? Sie behauptet ebenfalls, an einer Verbesserung der Rahmenbedingungen für eine digitalere Gesellschaft inklusive des Gesundheitswesens interessiert zu sein und daran zu arbeiten. Sie hat aber zumindest in den letzten Monaten erkennen müssen, dass das Fundament einer digitalen Verbesserung nicht ausreichend trägt und dass die Bedingungen sowohl im Bereich der Netzabdeckung als auch im Bereich der digitalen Basiskenntnisse nachzubessern sind.

Politik: zentrale Fragen nicht geklärt

Ein deutlicher Hinweis auf diese Tatsache sind die vielen Gesetze, die in den letzten beiden Jahren zu dieser Thematik im Gesundheitswesen auf den Weg gebracht worden sind. Und trotzdem sind auch aktuell zentrale Fragen nicht ausreichend gelöst – z. B. wie im Zeitalter digitaler Gesundheitsakten der Schutz hochsensibler Patientendaten sicher gewährleistet werden kann. Auch die gesetzlich verankerte und damit sichere Einführung der digitalen Gesundheitsakte macht momentan noch zu schaffen: Die Theorie scheint zwar gut gelöst. Die praktische Anwendung wird aber abhängen von den in unseren Praxen vorhandenen PVS-Systemen und deren Fähigkeiten, Daten zur Befüllung der ePA herzugeben.

Vorreiter für den Fortbestand

Als Vorreiter für den Fortbestand der Praxisstrukturen im Bereich der Diabetologie mache ich mir natürlich so meine Gedanken, wie all diese Neuerungen denn wohl auskömmlich und nachhaltig mit einer Vergütung für die Praxisteams hinterlegt werden. Denn eines ist ganz sicher: Die Umsetzung von Digitalisierung im Sinne des Traumes ist zumindest in der Anfangszeit aufwendig! Zeitlich und inhaltlich aufwendig und bislang in den Modellen diesbezüglich nicht ausreichend mit der entsprechenden Vergütung hinterlegt. Und wir Praxen, die den Großteil der Menschen mit Diabetes tagtäglich versorgen, werden neben den Umsetzungen in den eigenen Einrichtungen auch zusätzlich zeitliche – und damit materielle – Ressourcen in die Digitalisierungsassistenz unserer Patienten investieren müssen.

Digitalisierung der Medizin: Die Politik möchte diesen Fortschritt gern haben, ihn aber nicht ­finanzieren!

Die große Politik fragt sich oft, warum das mit der Digitalisierung, die doch alles so viel schöner und einfacher macht, nicht so vorangeht, wie sie sich das vorstellt. Eine zentrale Antwort auf diese Frage lautet: weil auch die Politik diesen Fortschritt zwar gern haben, ihn aber nicht finanzieren möchte! Solange die Politik die Kostenträger im Gesundheitswesen nicht dazu verpflichtet, digitale Lösungen auch hinreichend zu vergüten, wird es trotz gesetzlicher Vorgaben keine funktionierende flächendeckende Umsetzung der theoretisch schönen Modelle in der Praxis geben.

Die Kostenträger stellen sich bei dieser Thematik aktuell dumm und taub, sodass wir uns als Ärzte selbst helfen müssen und darauf setzen, dass die Politik dieses erkennt und die Rahmenbedingungen dafür schafft.


Autoren:

Dr. Andreas Lueg
Diabeteszentrum L1 Hameln, L1-Ärztehaus, Lohstraße 1, 31785 Hameln

Dr. Nikolaus Scheper
Diabetologische Schwerpunktpraxis, Praxis Dr. med. Scheper & Schneider & Veit, Bergstraße 167, 45770 Marl