Lisa Schütte, Dr. Jens Kröger, Dr. Katrin Kraatz

Als Arzt: immer mehr Berater für selbst­bestimmte Patienten

Die Art der Behandlung von Menschen mit Diabetes hat sich rigoros verändert. Vor allem die Möglichkeiten der Selbstkontrolle erlauben Betroffenen, ihren Dia­betes selbstständiger zu managen. In Zeiten der Digitalisierung und Technologisierung sollten Praxisteams mehr bieten, als nur Technologie zur Verfügung zu stellen: Schulung und Aufklärung sind unerlässlich.

Wer eine chronische Krankheit wie Diabetes hat, erlebt im Lauf seiner „Diabetes-Karriere“ viele Entwicklungsstufen. Das betrifft nicht nur die Behandlung der Krankheit selbst, sondern auch die Art, wie Arztbesuche ablaufen und welche Rolle der einzelne Mensch mit Diabetes dabei einnimmt. Gerade beim Typ-1-Diabetes, der zwei der Autorinnen seit Jahrzehnten begleitet, ließ und lässt sich dieser Wandel gut beobachten: Die Menschen konnten mit zunehmenden Möglichkeiten der Selbstkontrolle immer selbstständiger ihren Diabetes managen. Der Arzt wurde vom Bestimmenden immer mehr zum Beratenden. Beim Typ-2-Diabetes ist der Weg aufgrund der vielen unterschiedlichen Facetten dieser Erkrankung nicht ganz so einfach. Große Bedeutung kommt hier vor allem der Prävention zu, deren Möglichkeiten der Verhaltens- wie Verhältnisprävention in Deutschland bisher viel zu wenig genutzt wurden.

Die Entwicklung der Diabetesbetreuung

Wenn man auf die vergangenen fünf Jahrzehnte – das ist der Zeitraum, den die Autorinnen im Hinblick auf ihren Diabetes überblicken – betrachtet, waren die Entwicklungsschritte folgende:

1970er: Die Diagnose Diabetes mellitus Typ 1 stellte die Betroffenen selbst – wenn es Kinder waren, vor allem die Eltern – vor ein großes Problem. Ärzte, die spezialisiert waren auf das Thema Diabetes und besonders bei Kindern, gab es nur wenige. Eine einzige Klinik mit diesem Schwerpunkt in der Bundesrepublik Deutschland fanden damals die Eltern einer der Autorinnen, mehrwöchige Aufenthalte über die Jahre von Kind und einem Elternteil hier bestimmten die Therapie, die nur auf Kontrollen in Laboren beruhte. Das Insulin verschrieb zwischen den Aufenthalten routinemäßig der Hausarzt.

1980er: Langsam zog die Blutzuckerselbstkontrolle in die Diabetestherapie ein [Ascensia Dia­betes Care 2017]. Die gemessenen Glukosewerte bildeten eine Grundlage für Therapieentscheidungen, die die Ärzte in der Sprechstunde fällten. Allerdings waren die Geräte so groß und so umständlich zu bedienen, dass an ein Messen unterwegs nicht zu denken war. Entsprechend selten fanden Messungen statt. Therapieentscheidungen beruhten deshalb auf wenigen Werten. Außerdem war die Qualität dieser Entscheidungen (und ist vielfach auch noch heute) abhängig von der Dokumentation der Werte und der begleitenden Faktoren wie Insulingaben, Kohlenhydrataufnahmen und Besonderheiten wie Krankheiten, Feiern usw.

1983 fand der erste Kurs zur Diabetesberaterin DDG statt [DDG 2014], sodass spezialisierte Fachkräfte die Menschen beraten konnten – denn die Behandlung des Diabetes bestand (und besteht) nicht nur aus Insulingaben.

1990er: Der erste Test zur HbA1-Bestimmung kam auf den Markt [Kraatz 2016], was Therapieentscheidungen auf eine breitere Basis stellte. Allerdings waren die Besuche beim Arzt dadurch auch immer mit einem bangen Gefühl verbunden: Wie hoch würde der HbA1-Wert, der ja erst später zum etwa 2 % niedrigeren HbA1c-Wert wurde, sein?

Jetzt begann sich die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) intensiv um die strukturierte Qualität der Behandlung von Diabetikern zu kümmern [DDG 2014]: 1991 wurden erstmals Kriterien erstellt für Schulungseinrichtungen für Typ-1-Diabetiker, 1997 für Typ-2-Diabetiker. Die Zahl der qualifizierten Einrichtungen wuchs schnell. Auch die Weiterbildung zum Diabetologen DDG wurde 1995 auf den Weg gebracht, was dazu führte, dass entsprechend qualifizierte Ärzte Diabetes-Schwerpunktpraxen gründeten. Im Jahr 1997 initiierte die DDG ein Programm zum Erstellen evidenzbasierter Leitlinien und Praxis-Leitlinien.

Als Patient hatte man zunehmend das Gefühl, dass bei den Ärzten deutlich mehr Kenntnisse zum Diabetes vorlagen und es in der Praxis nicht nur ein Krankheitsbild neben vielen anderen war. Erste Schritte in Richtung Digitalisierung wurden unternommen, erste Blutzuckermessgeräte waren in spezielle Computerprogramme auslesbar. Durch den gemeinsamen Blick auf den Bildschirm konnten Patient und Arzt gut die Blutzuckerverläufe und eventuell notwendige Therapieanpassungen besprechen.

2000er: Zumindest die Typ-1-Dia­betes-Behandlung lag immer mehr in der Hand der Betroffenen. Ärzte und Diabetes­beraterinnen nahmen zunehmend die Rolle des Supervisors ein.

2000er: Die Diabetesbehandlung, zumindest beim Typ-1-Diabetes, lag bei einem Teil immer mehr in der Hand der Betroffenen. Ärzte und Dia­betesberaterinnen nahmen zunehmend die Rolle des Supervisors bzw. Beraters ein. Da ­nahezu alle Blutzuckermessgeräte bereits in Computerprogramme auslesbar und die Diabetesdokumentation digital möglich waren, gab es bereits eine gute Datengrundlage für die Dia­betesbetreuung auf Augenhöhe. Natürlich lagen und liegen auch heute noch die übergeordneten Therapieentscheidungen bei den Ärzten, aber viele therapeutische Entscheidungen trafen auch damals schon die Menschen mit Dia­betes selbst.
Praxisbesuche bekamen mit Einführung der ersten Disease-Management-Programme im Jahr 2002 eine neue Struktur [IQWiG 2007]. Viertel- bis halbjährliche Besuche waren und sind vorgesehen, Untersuchungen und Untersuchungszeiträume empfohlen bzw. festgelegt.

2010er: Mit der Möglichkeit des kontinuierlichen Glukosemonitorings (CGM), außerdem der zunehmenden Vernetzung wurde es zunehmend möglich, seinem Arzt alle Daten elektronisch zur Verfügung zu stellen. Zaghafte Schritte wurden unternommen, telemedizinische Modelle auszuprobieren und einzuführen. Aber noch waren (und sind auch heute noch) persönliche Besuche beim Arzt das Übliche, ggf. unterstützt durch telefonische Konsultationen.

2020: Die Pandemie durch SARS-CoV-2 erzwingt, was vorher nahezu unmöglich schien: Plötzlich sind telemedizinische Arztbesuche in großem Umfang möglich. Arzt und Patient blicken, jeweils an ihrem eigenen Computer oder Smartphone sitzend, auf dieselben Daten, obwohl sie möglicherweise kilometerweit ausein­andersitzen. Was weiterhin allerdings nicht geht, sind Laborkontrollen sowie körperliche und maschinelle Untersuchungen ohne physischen Kontakt.

Menschen müssen gut aufgeklärt sein

Die Geschichte der Diabetesbehandlung zeigt: Diabetes mellitus, insbesondere wenn er insulinbehandelt ist, ist ein Paradebeispiel dafür, dass Menschen für das alltägliche Leben mit einer chronischen Krankheit gut aufgeklärt sein müssen. Im Alltag tragen sie in den meisten Situationen die alleinige Verantwortung für ihre Therapie. Der Arzt oder Diabetologe fungiert dabei oft als Berater und Ansprechpartner bei Fragen. Der Alltag mit dieser Erkrankung ist so vielfältig und individuell, dass die Menschen selbst entscheiden müssen, was in diesem oder jenem Moment das Richtige für sie und ihre Dia­betestherapie ist.

„Empowerte Patienten“ haben oft das Bedürfnis, sich neben den Arztterminen zu vernetzen und mit anderen Betroffenen auszutauschen.

„Empowerte Patienten“ haben oft das Bedürfnis, sich neben den Arztterminen zu vernetzen und mit anderen Betroffenen auszutauschen. Dies ist kein neues Phänomen, sondern existiert schon seit Jahrzehnten in verschiedenen Formen der Selbsthilfe. Besonders spezielle Fragen und Probleme, die beim Arzt oft keinen Raum finden, werden untereinander vielseitig diskutiert. Ärzte, die über enormes medizinisches Fachwissen verfügen, können sich oft nicht die Zeit nehmen, die jeder Patient braucht. Und besonders Fragen aus dem alltäglichen Leben können auch geschulte Mediziner nicht immer beantworten. Der große Erfahrungsschatz von Betroffenen ist deswegen ein gutes Werkzeug, um mit der Krankheit in bestimmten Situationen besser umgehen zu können. Menschen mit Diabetes finden untereinander nicht nur Hilfe auf Alltagsfragen, sondern erfahren auch das Gefühl von Zugehörigkeit und Verständnis. Typ-1-Diabetes ist nicht nur das Fehlen des Insulins, sondern häufig einhergehend eine psychische Belastung. Gerade dabei könnten die Menschen nicht unterschiedlicher sein. Einige benötigen den Austausch mit anderen, um sich besser, stärker oder auch normaler zu fühlen. Der Wunsch nach Austausch bestand schon immer, neben den bisherigen Selbsthilfegruppen hat sich in der digitalen Zeit eine große Dia­betes-Online-Community von Menschen mit Typ-1-Diabetes zusammengeschlossen, die sich international immer weiter vernetzt. Für die mentale Gesundheit ist dies ein wichtiger Aspekt. Um Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 genauso zusammenzubringen, wurde die „Digitale Allianz Typ 2“ im Jahr 2019 in Deutschland gegründet. Obwohl alle relevanten Stakeholder der Diabetes-Community hier zusammenarbeiten, ist es nicht so einfach, eine starke Community Typ 2 aufzubauen mit dem Ziel der besseren Vernetzung, Adressierung von Missständen und der politischen Meinungsfindung von Menschen mit Typ-2-Diabetes.

Es ist nicht einfach, wie beim Typ-1-Diabetes auch eine starke und gut vernetzte Typ-2-Diabetes-Community aufzubauen.

Empowerte Patienten sind gut informiert, neugierig, meistens auf dem aktuellen Stand der Behandlungsmöglichkeiten und werfen gern den Blick in die Zukunft. Auch in ihrer Freizeit durchforsten sie oft Literatur und Medien nach den neusten Informationen.

Die Verantwortung selbstbestimmter Patienten

Diabetes mellitus ist also eine chronische Krankheit, die den Menschen ein hohes Maß an Autonomie abverlangt. Gerade einmal wenige Bruchteile der Zeit, die die Menschen mit ihrer Krankheit erleben, verbringen sie beim Arzt. In der Regel steht alle drei Monate ein Quartalsbesuch beim Diabetologen an. Davor und danach liegt es an den Menschen selbst, das, was beim Arzt besprochen wurde, umzusetzen. Die meiste Zeit sind sie auf sich gestellt und müssen permanent eigenständige Entscheidungen treffen. Eigenverantwortung und Disziplin sind aus dem Leben eines Menschen mit Diabetes schwer wegzudenken. Zudem lernt man bei einer Krankheit wie Diabetes niemals aus, weswegen sich empowerte Patienten viel mit ihrer Erkrankung auseinandersetzen. Besonders in der heutigen digitalen Zeit kommen immer mehr und vor allem schneller Erkenntnisse zur Behandlung von Diabetes zum Vorschein. Werden diese richtig von den Menschen genutzt, kann dies viel Erleichterung schaffen. Mit der Technik kommen auch neue und andere Herausforderungen auf die Menschen mit Diabetes zu. Allein das Verarbeiten, Analysieren und auch Teilen der neuen Daten muss gelernt werden.

Wie könnte die Arztpraxis ab 2021 ­aussehen?

Trotz allen Empowerments und aller Selbstständigkeit mit der chronischen Krankheit Dia­betes werden die Menschen nie gänzlich auf den direkten Arztkontakt verzichten können. Laborkontrollen erfordern nun einmal, dass das Probenmaterial zur Verfügung steht. Deshalb müssen zum Beispiel für die Kontrolle von Blutfetten oder Nierenwerten weiterhin Blut­entnahmen durch einen Arzt oder das Praxispersonal erfolgen. Der Labor-HbA1c-Wert könnte aber möglicherweise irgendwann ausgedient haben. Je weiter verbreitet CGM-Systeme sein werden, desto eher könnten in diesen Systemen ermittelte eHbA1c-Werte an Bedeutung gewinnen – oder der Glukose-Management-Indikator (GMI), der jetzt schon in manchen Programmen angegeben wird und in Zukunft als Standard angesehen werden könnte. Auch elektronische Speichermöglichkeiten von Blutzuckermesswerten können hilfreich bei der Bewertung der Stoffwechselsituation sein. Vorrangig wird das gelten für Typ-1-Diabetiker und für diejenigen Typ-2-Diabetiker, die mit Blutzuckermesssystemen und ausreichend (!) Teststreifen versorgt werden können oder die ein CGM-System nutzen. Für die anderen wird weiterhin gelten: Die vierteljährliche HbA1c-Bestimmung muss beim Arzt erfolgen.

Es hat sich gezeigt, dass Video-Sprechstunden und Online-Schulungen mit zertifizierten und evaluierten Programmen sehr hilfreich sein können, um Probleme schnell zu besprechen.

Auch die meisten körperlichen Untersuchungen sind nur direkt beim Arzt möglich, zum Beispiel Neuropathie-Screening, EKG und Ultraschall­untersuchungen, doch auch im Bereich der bisher „nur vor Ort“ möglichen Untersuchungen schreiten die digitalisierten Möglichkeiten voran. Auch das Ansehen und Ertasten der Injektionsstellen funktioniert nicht aus der Ferne. Da diese Untersuchungen in den meisten Fällen aber nicht jedes Vierteljahr stattfinden müssen, können die anderen Quartalstermine telemedizinisch stattfinden. Auf die Diabetesdaten haben Arzt, Patient und ggf. Diabetesberaterin gemeinsam Zugriff und können per Video-Sprechstunde – im datengeschützten Rahmen – direkt und mit Blickkontakt miteinander sprechen. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass Video-Sprechstunden und Online-Schulungen mit zertifizierten und evaluierten Programmen sehr hilfreich sein können, um kleinere und größere Probleme schnellstmöglich zu besprechen. Dies bedarf natürlich einer guten Digitalisierungsstruktur und -qualität im Gebiet, in dem der jeweilige Mensch mit Diabetes mellitus lebt. Diese sind häufig nicht ausreichend gegeben, Deutschland steht hier weiterhin am Ende der Möglichkeiten im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, aber auch das wird sich ändern. Natürlich muss auch gelernt werden, wie eine Online-Schulung erfolgreich gestaltet werden kann, aber mit etwas Übung sind auch Ansätze des Empowerments umsetzbar. Rezepte können elektronisch an die Patienten geschickt werden oder direkt an die Versorger wie Apotheke, Versandhandel oder Hilfsmittelhersteller. Patienten könnten auf diese Weise viel Zeit sparen, was unter Umständen auch ökonomisch von Interesse sein könnte: Für Arztbesuche müssten sie deutlich weniger Zeit investieren als aktuell.

Je weiter die künstliche Intelligenz voranschreitet, z. B. in Patient-Support-Systemen, desto mehr könnten solche Systeme therapeutische Hilfestellung leisten – was wiederum Patienten und Arzt/Diabetesteams Wege und Zeit sparen kann. Wenn aber ein Besuch beim Arzt ansteht, könnten Praxen die Wartezeit innerhalb der Praxis zumindest für die Patienten, die nur einen kurzen Weg in die Praxis haben, reduzieren, indem sie Managementsysteme einsetzen, die den Patienten kurzfristig per Smartphone informieren, dass er kommen kann.

Arzt-Patienten-Verhältnis mit ­selbstbestimmten Patienten

Trotz aller Technologisierung und Digitalisierung bleibt aber wichtig, dass bei gut informierten und motivierten Patienten das Arzt-Patienten-Verhältnis eine wichtige Rolle einnimmt. Deshalb ist der Arztbesuch weiterhin wichtig und unerlässlich. Mehr Bedeutung bekommt dabei das Gespräch auf Augenhöhe. Die Sprache und der Ton sind hierbei nicht zu vernachlässigen, um ein paritätisches Gespräch führen zu können. Dann steht einer guten Zusammenarbeit bezüglich der Therapie der Patienten nichts im Weg. Stichwort: shared decision making!
Die Menschen mit Diabetes nehmen gern Rat an, einige wollen aber auf jeden Fall ein Mitspracherecht, Entscheidungsfreiheit und diskutieren gern über ihre Therapieoptionen. Andere möchten aber weiterhin, dass der Arzt/das Diabetesteam ihnen die Entscheidungen abnimmt, ohne selbst viel darüber nachzudenken. Entscheidend ist, dass jedem Menschen mit Diabetes die Optionen angeboten und erklärt werden. Bei der Optimierung der Dia­betestherapie ist es wichtig, dass sie individuell auf den Alltag der Menschen angepasst werden kann. Je mehr sich die Menschen mit ihrer Krankheit beschäftigen und informieren, desto mehr werden sie selbst zu Experten ihres Diabetes. Deswegen ist es wichtig, dass auch die Meinung und das Fachwissen der Menschen mit Diabetes von den behandelnden Ärzten anerkannt werden.

Für die behandelnden Ärzte ist es dann wichtig, dass sie nicht ängstlich oder gar genervt auf diesen Patiententypus reagieren. Auch die Ärzte können von empowerten Patienten mit ihren Erfahrungen und dem Alltagswissen profitieren – sei es, dass die Patienten immer auf dem neusten Stand der Forschung und Technik sind oder neue Ansätze ausprobieren möchten, die auch für die Ärzte Neuland sein können.

So kann es durchaus auch einmal sein, dass die Patienten bereits vor den Ärzten über die neusten technischen Hilfsmittel informiert sind. Dafür dürfen die Ärzte und die Praxen nicht abgeneigt gegenüber aktuellen Neuentwicklungen der Technik oder Therapieformen sein. Zum eigenen Wohl und dem der Menschen mit Diabetes ist es auch für die Praxen und Ärzte wichtig, sich zu informieren und aktuelle Entwicklungen im Blick zu behalten.
Nur das reine Zurverfügungstellen der Technik reicht nicht aus. Auch hier sind Schulungen und Aufklärung unerlässlich. Im Zweifel sind die Praxen die einzigen Anlaufstellen für die Patienten, um an neue Technologie zu gelangen. Nicht selten resultiert daraus eine neue, völlig andere Diabetestherapie. Die Ärzte sollten also wieder dafür Sorge tragen, ihre Patienten mit gutem Gewissen mit der neuen Technik ins Leben zu entlassen.

Nur das reine Zurverfügungstellen der Technik reicht nicht aus. Schulungen und Aufklärung sind unerlässlich.

Für medizinischen und fachgerechten Rat werden die Ärzte auch von empowerten Patienten weiterhin konsultiert werden. Dennoch ist es zusätzlich wichtig, dass die Menschen mit Dia­betes auch andere Wege finden, um mit ihrer Erkrankung umzugehen. Angehörige und Freunde spielen hierbei die wichtigste Rolle in der Unterstützung. Menschen mit Diabetes mellitus Typ 1 wie Typ 2 müssen individuell gestärkt werden. Gerade deswegen sind gut aufgeklärte Angehörige wichtig, da nur so sinnvoll unterstützt werden kann. Hierbei hat die Schulung eine grundlegende Bedeutung: Moderne Schulungen für Menschen mit Diabetes mellitus integrieren Angehörige mit einem Doppelstundenmodell. Mittlerweile stehen auch Schulungsmodule nur für Angehörige zur Verfügung. Gerade im Hinblick auf den Typ-2-Dia­betes werden individualisierte Ernährungs- wie Bewegungskonzepte sowohl im Rahmen der Prävention wie der Therapie eine wichtige Rolle spielen. In einer von diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe initiierten Umfrage unter Menschen mit Typ-2-Diabetes wollten 48 % eine individualisierte Ernährungsberatung. Mithilfe kontinuierlicher Glukosemessung ist es dabei gut möglich, darzustellen, wie sich einzelne glukose­erhöhende Lebensmittel individuell auf den Glukoseverlauf auswirken. Das Selbstverständnis für die Erkrankung und Lösungsmöglichkeiten hinsichtlich der Ernährungs- und Bewegungstherapie können hier gerade im Bereich der Prävention des Typ-2-Diabetes bei Hochrisikopatienten gestärkt werden. Aber auch in der Therapie von Menschen mit Typ-2-Diabetes, die nur Basalinsulin oder orale Antidiabetika erhalten, kann dieser visualisierte Ansatz der Glukoseverläufe sehr hilfreich sein, um die Stoffwechsellage zu verbessern. Gerade erst wurden Studien hinsichtlich dessen präsentiert [Miller 2020, Wada 2020, Wright 2020]. Der Bundesgesundheitsminister hat sich stark dafür eingesetzt, dass Patienten jetzt vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geprüfte Apps verschrieben bekommen können. Deutschland hat hier eine Vorreiterrolle. Gute Apps können sicher in der Therapie unterstützen, und hier wird sich auch schnell die Spreu vom Weizen trennen. Ärzte sollten genau hinsehen, was sie empfehlen, und Menschen mit Diabetes mellitus sollten es nicht nach dem Motto „nice to ­have“ betrachten, sondern kritisch hinterfragen, inwieweit eine App sie wirklich und nachhaltig unterstützt. Dann können diese Apps auf Rezept eine gute Bereicherung im Rahmen der digitalen Unterstützung sein. Ziel der behandelnden Ärzte sollte es sein, die Menschen mit Diabetes so ins Leben zu entlassen, dass sie ihre Therapie eigenverantwortlich im Alltag stemmen können. Dies stärkt den Mut und die Selbstsicherheit, die erforderlichen Therapieentscheidungen im Alltag treffen zu können.

Ärzte und Arztbesuche werden nicht an Bedeutung verlieren. Nur die Art und Weise der Kommunikation und Therapiemöglichkeiten werden sich ändern.

Die wichtigste Rolle bei alldem ist die Aufklärung. Den Menschen mit Diabetes sollte bewusst gemacht werden, wie wichtig das eigene Handeln und Denken in der Diabetestherapie ist, und dennoch sollte deutlich werden, dass die Arztbesuche nach wie vor einen guten Grund haben und sie diese ebenfalls für sich nutzen können und sollen. Auch in Zukunft werden die Ärzte nicht an Bedeutung für die Patienten verlieren. Lediglich die Art und Weise der Kommunikation und die Therapiemöglichkeiten werden sich durch die fortschreitende Digitalisierung ändern, allerdings zum Vorteil für beide Seiten. Angst und Ablehnung sollte gut entgegengewirkt werden. So sollten nicht nur Patienten, sondern auch die Ärzte und Praxisteams aufgeschlossen für neue Ansätze und Technologien sein. Damit steht einer guten Versorgung der Menschen mit Diabetes in ihrem alltäglichen Leben ein großer Stolperstein weniger im Weg.


Quellen:

  1. Ascensia Diabetes Care: Meilensteine in der Blutzuckermessung. DAZ 2017; (50): 87. Online: 14.12.2017. https://www.deutsche-­apotheker-zeitung.de/daz-az/2017/daz-50-2017/­meilensteine-in-der-blutzuckermessung (Zugriff: 20.08.2020)
  2. DDG: 50 Jahre Deutsche Diabetes Gesellschaft. 2014. https://www.deutsche-­diabetes-gesellschaft.de/die-ddg/geschichte (Zugriff: 20.08.2020)
  3. IQWiG: Was sind Disease-Management-Programme (DMP)? 2007, aktualisiert 2016. https://www.gesundheitsinformation.de/was-sind-disease-­management-programme-dmp.2265.de.html (Zugriff: 20.08.2020)
  4. Kovacs Burns K, Nicolucci A, Holt RI, Willaing I, Hermanns N, Kalra S, Wens J, Pouwer F, Skovlund SE, Peyrot M; DAWN2 Study Group: Diabetes Attitudes, Wishes and Needs second study (­DAWN2™): cross-national benchmarking indicators for family members living with people with diabetes. Diabet Med 2013; 30: 778 – 788
  5. Kraatz K: HbA1c-Wert – was sagt er wirklich aus? 2016. https://www.diabetes-online.de/a/hba-c-wert-was-sagt-er-wirklich-aus-1753424 (Zugriff: 20.08.2020)
  6. Miller E et al.: HbA1c reduction after initiation of the FreeStyle Libre system in type 2 diabetes patients on long-acting insulin or non-insulin therapy. Poster presented at American Diabetes Association 80th Scientific Session; June 12 – 16, 2020; virtual
  7. Wada E, Onoue T, Kobayashi T, Handa T, ­Hayase A, Ito M, Furukawa M, Okuji T, Okada N, Iwama S, Sugiyama M, Tsunekawa T, Takagi H, Hagiwara D, Ito Y, Suga H, Banno R, Kuwatsuka Y, Ando M, Goto M, Arima H: Flash glucose monitoring ­helps achieve better glycemic control than conventional self-monitoring of blood glucose in non-insulin-treated type 2 diabetes: a randomized controlled trial. BMJ Open Diabetes Res Care 2020; 8: e001115
  8. Wright E Jr., JR., Kerr MSD, Reyes IJ, Nabutovsky Y, Miller E: HbA1c reduction associated with a FreeStyle Libre system in people with type 2 diabetes not on bolus insulin therapy. 78-LB. Poster presented at American Diabetes Association 80th Scientific Session; June 12 – 16, 2020; virtual

Autor:

Lisa Schütte
Grüner Weg 22a, 34117 Kassel

Dr. Jens Kröger
Zentrum für Diabetologie Bergedorf, Glindersweg 80, Haus E, 21029 Hamburg

Dr. Katrin Kraatz
Verlag Kirchheim + Co GmbH, Wilhelm-Theodor-Römheld-Straße 14, 55130 Mainz