Prof. Dr. Bernhard Kulzer

Elektronische Patientenakte

Bei der Etablierung elektronischer Patientenakten (ePA) sind mit Deutschland vergleichbare andere europäische Länder viel weiter. Ein Blick nach Skandinavien macht die Lage deutlich – in Dänemark sind Hausärzte seit 2004 verpflichtet, eine elektronische Patientenakte zu nutzen. Der Artikel klärt auch die vielen Begriffe, die mit der ePA assoziiert sind.

Die Einführung einer elektronischen Patientenakte (ePA) in Deutschland ist ein sehr schwieriges, komplexes und mittlerweile sehr kostspieliges Unterfangen, das sich seit Jahren verzögert. 16 Jahre nach dem Beschluss zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (als eine Voraussetzung für die Entwicklung einer elektronischen Krankenakte) sind bis heute trotz Milliarden Euro an Entwicklungskosten keine einzigen gesundheitsbezogenen Daten der Versicherten darauf gespeichert worden.

Elektronische Patientenakten in Europa

Andere europäische, der Bundesrepublik strukturähnliche Länder sind bei der Etablierung elektronischer Patientenakten viel weiter – gerade Länder mit skandinavischer Prägung wie Dänemark oder auch Estland. In einer Untersuchung zum Stand der Implementierung der elektronischen Patientenakte auf nationaler Ebene (European Scorecard) war Deutschland 2016 im unteren Mittelfeld des Rankings und hat sich 2018 weiter verschlechtert [Bertram 2019] (Tabelle 1).

Tab. 1: Krankenhaus-Report, 2019 [Bertram 2019]

Beim Spitzenreiter Dänemark wurde beispielsweise schon im Jahr 2003 ein Patientenportal (www.sundhed.dk) als digitale Plattform mit einer abgesicherten Cloudlösung online gestellt. Ab 2004 waren alle Hausärzte verpflichtet, eine elektronische Patientenakte zu nutzen und digitale Kommunikationswege zu verwenden. Diese beinhaltet in der aktuellen Version eine zentralisierte Datenbank mit fast allen Daten von Haus- und Fachärzten, anderen Leistungserbringern und des stationären Sektors. Außerdem enthält sie digitale Bild- und Laborbefunde, einen elektronischen Medikationsplan mit einer integrierten Interaktionsdatenbank, die Wechselwirkungen mit Medikamenten aufzeigt, E-Rezepte mit der Möglichkeit von Folgeverschreibungen, ein elektronisches Impfregister, eine Organspenderegistrierung und elek­tro­nische Patientenverfügung, die Möglichkeit der Online-Terminvereinbarung, des Abrufens von Echtzeitwartezeiten aller öffentlichen Krankenhäuser, der Bewertung von Krankenhausaufenthalten, der Einschreibung in Screeningprogramme, der Registrierung als Blut- oder Eizellspender, der Einschreibung in medizinische Studien oder webbasierte Kommunikation mit behandelnden Leistungserbringern. Die Patienten haben einen all­umfassenden Einblick („My log“), wer wann auf diese Daten zugegriffen hat.

Tabelle 2: Die Entwicklung der elektronischen Patientenakte (ePA).

Dänemark: die eAkte wird angenommen

Bereits 2013 nutzten nahezu alle Hausärzte und Apotheker, 98 % der Fachärzte, 85 % der Chiropraktiker sowie 50 % der Zahnärzte Dänemarks die elektronische Patientenakte, inzwischen auch alle stationären Einrichtungen. Mittlerweile werden über 85 % aller Rezepte auf elektronischem Weg versendet. Im Schnitt besuchen pro Monat 1,7 Mio. Dänen (Einwohnerzahl Dänemarks: 5,8 Mio.) das Portal [Bertram 2019, Gerlof 2017].

Der wichtigste Vorteil der elektronischen Patientenakte liegt aus der Sicht der Menschen in der schnellen Notfallversorgung.

Länder wie Dänemark erreichten die Akzeptanz und Verbreitung der ePA vor allem durch infra­strukturelle Voraussetzungen (wie Verfügbarkeit von Breitband-Internetzugang oder Frequenz der Internetnutzung), eine starke Governance, das frühzeitige Setzen verbindlicher Ziele sowie eines zeitlichen Rahmens und durch Vorgabe der Inhalte und Funktionen der elektro­nischen Patientenakte sowie der Inter­opera­bili­tätsstandards.

Patienten befürworten elektronische Patientenakte

Eine repräsentative Studie, für die im Jahr 2019 im Auftrag der Pronova BKK 1.000 Personen in Deutschland befragt wurden, kam zu dem Ergebnis, dass mehr als 80 % der Deutschen eine elektronische Gesundheitsakte nutzen würden und 9 % dieser ablehnend gegenüberstehen. Wichtigste Vorteile einer ePA sind aus Sicht der Menschen die schnelle Notfallversorgung, da der behandelnde Arzt rasch alle relevanten Informationen auslesen kann, die Zeitersparnis durch eine ePA, der bessere Informationsaustausch zwischen Ärzten und Krankenhäusern, die Vermeidung von Mehrfachuntersuchungen sowie eine bessere Arzneimittelsicherheit. Am ehesten in die Akte integrieren würden die Menschen Impfstatus, Laborwerte, Röntgenbilder und EKG-Befunde [Pronova 2019]. Wichtig ist den Patienten jedoch, dass sie selbst bestimmen können, ob sie eine ePA anlegen möchten, welche Inhalte dort zu finden sind, wer Zugriffsrechte hat, wie der Datenschutz gewährleistet ist und wie für den Patienten nachzuvollziehen ist, wer wann und in welchem Umfang Einblick in die ePA hatte bzw. Inhalte dort integriert hat.

Die Arbeitsgruppe von Sun et al. [2019] an der Universität Pittsburgh untersuchte die Anwendung einer ePA bei einer Gruppe von 38.399 Personen mit Typ-2-Diabetes und kam zu dem Ergebnis, dass ca. ein Drittel regelmäßig die ePA in Hinblick auf den Diabetes verwendeten – öfters an Wochentagen als am Wochenende, deutlich häufiger nach Erinnerungsmails. Und: Ältere Menschen nutzten sie öfter als jüngere. Auch eine Befragung von 1.095 Menschen mit Diabetes bezüglich einer diabetesspezifischen ePA („My Diabetes“) erbrachte hohe Zustimmungsraten, vor allem wurden die Unterstützung des Diabetes-Selbstmanagements und die Unterstützung zu Beginn der Erkrankung positiv bewertet [Conway 2018].

Tabelle 3: Unterschiedliche Konzepte elektronischer Akten.

In einer Studie mit amerikanischen Diabetesberatern befürworteten diese ebenfalls die ePA bei Diabetes, da diese ihrer Meinung nach den Informationsfluss zwischen den verschiedenen Behandlern und den Patienten verbessere, Zeit spare, wichtige Basisinformationen zur aktuellen Therapie enthalte und die Chance zur Interaktion mit den Patienten bei einer Lebensstilmodifikation biete [Wang 2018].

Nicht alle Menschen werden die Inhalte der ePA verstehen – es gibt bereits ­Initiativen, medi­zinisch schwer verständ­liche Inhalte ­allgemein verständlich zu machen.

Da nicht alle Menschen die Inhalte der ePA verstehen werden, gibt es bereits erste Initiativen, medizinisch schwer verständliche Inhalte allgemein verständlich zu machen, sodass die Patienten die Inhalte der ePA auch nachvollziehen können. Neben der Möglichkeit, Texte oder medizinische Fachausdrücke für Laien zu übersetzen (z. B. www.befunddolmetscher.de, www.washabich.de), versuchen Forscher auch auf dem Gebiet der Diabetologie, aus verschiedenen Informationen der ePA und des Kommunikationsverhaltens der Patienten den Grad der „Health Literacy“ zu erkennen, sodass Sprachniveau und Informationsgehalt automatisch oder entsprechend den Wünschen der Patienten angepasst werden können [Layor 2018].

Sprachverwirrung um die ePA

Nicht nur Patienten tun sich schwer, die Inhalte der ePA zu verstehen: Auch für Experten ist es mittlerweile nicht mehr einfach, die Vielzahl von Begriffen zu unterscheiden, die mit der ePA assoziiert sind. Hier eine Auswahl: Elektronische Krankenakte (EKA), Elektronische Karteikarte, Elektronische Fallakte, Elektronische Patientenakte (EPA, ePA), Elektronische Gesundheitsakte (EGA oder ELGA), Compute­rized Patient Record (CPR), Computer-Based Patient Record (CPR), Electronic Patient Record (EPR), Electronic Medical Record (EMR), Electronic Health Record (EHR), Computerized Medical Record (CMR), Electronic Health Care Record (EHCR), Continuous Care Record (CCR), Con­tinuous Electronic Care Record (CECR), ­Health Records (HR).

Für das Verständnis der deutschen Entwicklung der ePA ist es wichtig, die folgenden Formen der elektronischen Akten im Gesundheitswesen zu unterscheiden, die jeweils auch vom Gesetzgeber definiert werden.

Elektronische Patientenakte (ePA)

Die elektronische Patientenakte (ePA) soll nach dem mittlerweile in Kraft gesetzten „Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG)“ von 2019 das zentrale Element der vernetzten Gesundheitsversorgung und der Telematik-Infrastruktur werden. Die gesetzliche Grundlage ist § 291a SGB V, die Rahmenbedingungen der ePA werden durch die gematik definiert. Als Ziel ist von allen an diesem Prozess Beteiligten vorgegeben, eine bundesweit einheitliche und inter­operable Lösung für eine ePA zu schaffen, die die Insellösungen der bestehenden Gesundheitsakten ersetzt. Voraussetzung dafür sind bundesweit einheitliche Schnittstellen (z. B. zu den unterschiedlichen Praxisverwaltungssystemen, PVS), die von der gematik spezifiziert werden. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat vom Gesetzgeber die Aufgabe erhalten, die medizinischen Daten für die ePA zu standardisieren. Unter der Bezeichnung „Medizinische Informationsobjekte“ (MIOs) muss die KBV bis Herbst 2020 erste Standards definieren, z. B. für Labordaten, bestimmte medizinische Befunde oder den Impfpass.

Spätestens ab Januar 2021 müssen die gesetzlichen Krankenkassen ihren Versicherten eine solche ePA anbieten. In die ePA können Befunde, Diagnosen, Therapiemaßnahmen, Behandlungsberichte sowie Impfungen integriert werden; außerdem sollen ein Notfalldatensatz, der elektronische Medikationsplan sowie der Versand elektronischer Arztbriefe unterstützt werden. Es handelt sich bei der geplanten ePA um eine freiwillige Anwendung: Es liegt im Entscheidungsbereich der Patienten, ob eine elektronische Patientenakte angelegt werden soll. Die Patienten besitzen die absolute Datenhoheit – ohne Zustimmung der Patienten kann niemand Zugang zu ihrer ePA haben. Die Patienten entscheiden auch, welche Daten hinzugefügt, gespeichert bzw. gelöscht werden. Ärzte greifen grundsätzlich gemeinsam mit den Patienten auf deren ePA zu: Die Ärzte nutzen hierfür ihre Praxisausweise, die Patienten ihre elektronischen Gesundheitskarten.

Elektronische Gesundheitsakte (eGA)

Es existieren bereits verschiedene „elektro­nische Gesundheitsakten“, die einzelne Krankenkassen ihren Versicherten als Satzungsleistung bereitstellen. Die gesetzliche Grundlage hierfür ist § 68 SGB V.

  • 2017 startete die Techniker Krankenkasse mit einer Ausschreibung für eine elek­tronische Gesundheitsakte, die IBM für sich entschied. Das Unternehmen entwickelte dann mit „TK-Safe“ eine bundesweite elektronische Gesundheitsakte. Versicherte der Techniker können seit 2018 diese über die „­TK-App“ nutzen. In der Gesundheitsakte werden relevante Gesundheits- und Krankheitsdaten gesammelt und an einem zentralen Ort gespeichert.
  • Das Unternehmen Vivy entwickelt seit 2018 gemeinsam mit der DAK-Gesundheit, Betriebs-, Ersatz- und Innungskrankenkassen sowie privaten Krankenversicherungen eine elektronische Gesundheits-Akte, die über die „Vivy-App“ von Patienten in den App-Stores von Apple und Google heruntergeladen werden kann. Mithilfe der Vivy-App lassen sich relevante Gesundheitsdaten speichern. Patienten können medizinische Dokumente (Befunde, Blutwerte, Röntgenbilder etc.) über das Smartphone vom Arzt anfordern, ihre Daten oder bestimmte medizinische Dokumente an Ärzte schicken oder auch Funktionen wie einen digitalen Impfpass, einen Medikamentenplan oder eine Erinnerungsfunktion für Arzttermine nutzen. Die App kann auch mit Wearables wie Fitnesstrackern oder Smartwatches gekoppelt werden. Die Gesundheitsdaten werden nicht auf zentralen Servern gespeichert, sondern verbleiben immer beim jeweiligen Arzt, Zahnarzt oder Therapeuten.
  • Die AOK setzt eher auf ein dezentrales digitales Gesundheitsnetzwerk, welches mit Partnern unter Nutzung bestehender Strukturen und internationaler Standards den Bedürfnissen von Ärzten und Patienten gleichermaßen entgegenkommen möchte. Laut der Ausschreibung 2019 soll eine technische Plattform für die sektorenübergreifende Vernetzung zwischen den einzelnen Akteuren des Gesundheitssystems entwickelt werden. Die AOK verfolgt keinen zentralen Ansatz, sondern will je nach den Erfordernissen der jeweiligen regionalen Struktur unterschiedliche Anwendungen mit verschiedenen Partnern umsetzen. Ein aktuelles Projekt mit dem E-Health-Anbieter CompuGroup Medical (CGM) hat das Ziel, Ärzten die Integration der Daten über eine CGM-LIFE-Plattform zu erleichtern. Sowohl das AOK-Netz als auch die CGM-Plattform sind als offene, interoperable Lösungen konzipiert.
  • Als letzte große Krankenkasse hatte die Barmer im Oktober 2019 IBM den Zuschlag für die Entwicklung der elektronischen Patientenakte Barmer eCare gegeben. Die ePA soll ab 2021 jedem Versicherten als lebenslanges, persönliches Informationsmodul zur Verfügung gestellt werden. Die Speicherkapazität der ePA soll auch für Patienten individuell genutzt werden – z. B. durch Integra­tion von Impfplänen, eines Bonushefts für die Zahngesundheit, Daten von Wearables oder durch Beschreibung von krankengymnastischen Übungen.

Die Zukunft bereits etablierter elektronischer Gesundheitsakten von Krankenkassen ist ungewiss.

Die Zukunft dieser elektronischen Gesundheitsakten ist jedoch ungewiss. Denn mit dem von Bundestag und -rat beschlossenen „Digitale-Versorgung-Gesetz“ (DVG) fällt § 68 SGB V weg: Die Krankenkassen können somit die Kosten der Gesundheitsakten nur noch bis zum Ende der Übergangsfrist am 31. März 2022 erstatten. Danach soll die auf der Telematik-Infrastruktur (TI) basierende elektronische Patientenakte die einzig gesetzlich vorgegebene Form der Dokumentation von Patientendaten sein. Damit ist die „Geschäftsgrundlage der elektronischen Gesundheitsakten“ nicht mehr vorhanden. Auf der anderen Seite wird die ePA zum Start nur wenige Funktionen aufweisen, Kritiker sprechen von einer „Pdf- und Faxablage-­Gesundheits-App“. Es wird daher vor allem davon abhängen, ob die elektronischen Gesundheitsakten mit der ePA in ­puncto Inter­operabilität kompatibel und die Datenschutzbedingungen identisch sind. Zudem müssen Doppeleingaben vermieden werden und für die Patienten muss ein Mehrwert entstehen. Ist dies gegeben, könnten krankenkassenspezifische Angebote die Standardfunktionen der ePA ergänzen.

Elektronische Arztakte (eAA)

Auch die bisher schon in Arztpraxen geführte elektronische Arztakte (eAA, § 630f BGB) wird sich verändern müssen, um den Anforderungen der Interoperabilität gerecht zu werden. In Zukunft haben die Patienten das Recht, diese Daten als Kopie in elektronischer Form zu bekommen, etwa über eine App oder per Schnittstelle in eine ePA. Die erhobenen Befunde wie Labor­ergebnisse, EKG und Arztbriefe werden in den PVS der Ärzte archiviert, welche jedoch untereinander nur sehr eingeschränkt austauschfähig sind. Für die Zukunft ist zu fordern, dass die Daten elektronisch strukturiert und indexfähig suchbar abgelegt werden, sodass sie problemlos z. B. in die ePA oder in andere PVS exportiert werden können.

Es ist zu fordern, dass die Daten elektronisch strukturiert und indexfähig suchbar abgelegt werden.

Eine wichtige Voraussetzung dafür war die Verpflichtung zur „Integration offener Schnittstellen in informationstechnische Systeme“, welche zum 1. Juli 2017 in Kraft trat und in § 291 SGB V festgelegt wurde. Dies gilt für alle IT-Systeme, die in der ärztlichen Versorgung und in Krankenhäusern zur Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Patientendaten eingesetzt werden – somit auch für alle PVS. Diese Vorgabe musste bis Mitte 2019 umgesetzt werden, sodass die Inhalte der eAA prinzipiell auch für andere Zwecke wie die ePA verfügbar sind.

Elektronische Fallakte (eFA)

Im Gegensatz zur eAA wird die e-Fallakte von den behandelnden Ärzten über Einrichtungs- und Sektorgrenzen hinweg geführt, zielt jedoch auf die konkrete Behandlung eines bestimmten medizinischen Krankheitsfalls eines Patienten ab. Der Arzt benötigt hierzu die schriftliche Zustimmung des Patienten, um eine eFA anzulegen. Dieser willigt einer zeitlich auf die Krankheitsdauer begrenzten Speicherung seiner medizinischen Daten ein, welche von den von ihm berechtigten Ärzten geführt wird. Die behandelnden Ärzte machen über die eFA-Plattform wichtige Informationen und Dokumente anderen berechtigten Nutzern zugänglich. Nach Abschluss der Behandlung wird die eFA wieder geschlossen.

Forschungskompatible ePA

Mit dem 2019 verabschiedeten DVG, welches im Januar 2020 in Kraft treten wird, sollen zukünftig auch die Gesundheitsdaten der 73 Mio. gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland für die Forschung verwendet werden können, insbesondere für Längsschnittanalysen über längere Zeiträume und für die Versorgungsforschung. Nach dem aktuellen Diskussions­stand haben Patienten kein Widerspruchsrecht. Es werden jedoch aktuell auch Modelle diskutiert, in denen die Patienten mit einer „gezielten Datenspende“ eventuell auch darüber hinausgehende Gesundheitsdaten für wissenschaftliche Zwecke spenden können. Nach dem momentanen Planungsstand sollen die gesetzlichen Krankenkassen die persönlichen Daten sowie Behandlungsdaten aller Versicherten an den „Spitzenverband Bund“ der Krankenkassen weiterleiten, welcher sie dann pseudonymisiert der Forschung zur Verfügung stellt.

Mit dem 2019 verabschiedeten „Digitale- Versorgung-Gesetz“ sollen auch die Gesundheitsdaten der 73 Mio. gesetzlich Krankenversicherten für die Forschung verwendet werden können.

Die Verwaltung der Daten soll von einem erweiterten Forschungsdatenzentrum erfolgen, das beim Bundesgesundheitsministerium angesiedelt wird. Nach bisherigen Planungen ist eine Datentreuhänderinfrastruktur vorgesehen, die dafür sorgt, dass die Daten nur anerkannten Wissenschaftszentren verfügbar gemacht werden. Gleichzeitig arbeiten die Universitätskliniken im Rahmen der „Medizininformatik-Initiative“ daran, eine forschungskompatible ePA zu entwickeln, welche bis zum Jahr 2025 in allen Unikliniken verfügbar sein soll.

Die Verfügbarkeit großer Datensätze aus der Versorgung bietet  vor allem für die Versorgungsforschung große Chancen. Jedoch muss auch bedacht werden, dass die Daten zu einem anderen Zweck als für Forschungszwecke erhoben wurden, sodass bezüglich der Datenqualität sehr viele mögliche Einflussfaktoren (z. B. Abrechnungsfragen) zu beachten sind [Farmer 2018]. Eine amerikanische Studie [Mocarski 2018] analysierte beispielsweise bei 5.512.285 Patienten, wie häufig eine Adipositas diagnostiziert wurde. Von 74,6 % der Patienten, die eine Adipositas aufwiesen („wahrer Wert“), wurden nur 15,1 % in den Health Records richtig codiert. Bei einer Auswertung anhand dieser Daten hätte dies zu einer massiven Unterschätzung der tatsächlichen Anzahl adipöser Personen geführt.

eDiabetes-Akte DDG

Bei der Klärung der Inhalte der ePA in Hinblick auf Diabetes möchte die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) sich aktiv einbringen und die Definition der MIOs für diabetologische Themen mitbestimmen. Darüber hinaus plant die DDG die Entwicklung einer „eDiabetes-Akte DDG“, in der die wesentlichen Daten zum Diabetes einrichtungsübergreifend zusammengefasst und vor allem zu Zwecken der Qualitätssicherung benutzt werden [Müller-Wieland 2019]. Im Rahmen der Überarbeitung der Kriterien zur Anerkennung als zertifizierte Einrichtung nach den Richtlinien der DDG soll diese „eDiabetes-Akte DDG“ eine wichtige Rolle spielen, da damit gleichermaßen Merkmale der Struktur-, Prozess-, aber besonders auch der Ergebnisqualität erfasst, weitergeleitet und ausgewertet werden. Auch Benchmarking der verschiedenen Einrichtungen kann damit möglich werden.


Quellen:

  1. Bertram N, Püschner F, Gonçalves ASO, Binder S, Amelung V: Einführung einer elektronischen Patientenakte in Deutschland vor dem Hintergrund der internationalen Erfahrungen. In: Klauber J, Geraedts M, Friedrich J, Wasem J (Hrsg.): Krankenhaus-Report 2019. Springer, Berlin, Heidelberg, 2019: 6 – 16
  2. Conway NT, Allardice B, Wake DJ, Cunningham SG: User experiences of an electronic personal ­health record for diabetes. J Diabetes Sci Technol 2019; 13: 744 – 750
  3. Farmer R, Mathur R, Bhaskaran K, Eastwood SV, Chaturvedi N, Smeeth L: Promises and pitfalls of electronic health record analysis. Diabetologia 2018; 61: 1 241 – 1 248
  4. Lalor JP, Wu H, Chen L, Mazor KM, Yu H: ­ComprehENotes, an instrument to assess patient reading comprehension of electronic health record notes: development and validation. J Med Internet Res 2018; 20: e139
  5. Mocarski M, Tian Y, Smolarz BG, McAna J, Crawford A: Use of international classification of diseases, ninth revision codes for obesity: trends in the United States from an electronic health record-­derived database. Popul Health Manag 2018; 21: 222 – 230
  6. Müller-Wieland D, Ickrath M, Bitzer B: Digitale Transformation in der Diabetologie? In: Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG), diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe: Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2020. Kirchheim-Verlag, Mainz, 2019: 258 – 264
  7. Pronova BKK: Digitales Gesundheitssystem. 2019. www.pronovabkk.de/media/downloads/presse_studien/studie_digitales_gesundheitssystem_2019/Studie_Dig_Gesundheitssystem_Ergebnisse.pdf (Zugriff: 8.12.2019)
  8. Sun R, Burke LE, Saul MI, Korytkowski MT, Li D, Sereika SM: Use of a patient portal for engaging patients with type 2 diabetes: patterns and prediction. Diabetes Technol Ther 2019; 21: 546 – 556
  9. Wang J, Chu CF, Li C, Hayes L, Siminerio L: ­Diabetes educators’ insights regarding connect­ing mobile phone- and wearable tracker-­collected self-monitoring information to a nationally-used electronic health record system for diabetes education: descriptive qualitative study. JMIR Mhealth Uhealth 2018; 6: e10206

Autor:

Prof. Dr. Bernhard Kulzer
Forschungsinstitut Diabetes-Akademie Bad Mergentheim (FIDAM), Diabetes Zentrum Mergentheim, Johann-Hammer-Straße 24, 97980 Bad Mergentheim