Prof. Dr. Bernhard Kulzer & Dr. Jens Kröger

Digitale Prävention des Typ-2-Diabetes

Analoge Programme zur Prävention des Typ-2-Diabetes haben bereits Erfolge gezeigt. Lassen sich solche Ansätze in die digitale Welt übertragen? Apps, die Vitalparameter aufzeichnen und personalisierte Vorschläge z. B. zum Steigern der Bewegung oder zur Nahrungsaufnahme machen, könnten sinnvolle Ansätze sein.

Die Zahl der Menschen mit Typ-2-Diabetes steigt weiter stark an: Während es 1980 laut WHO global 108 Mio. Betroffene waren, steigt die Anzahl von ca. 422 Mio. Menschen mit Typ-2-Diabetes im Jahr 2018 auf schätzungsweise 642 Mio.  im Jahr 2040. Dieser Trend ist weltweit ungebrochen. Und auch in Deutschland gibt es immer mehr Menschen, die an Dia­betes erkranken. Aktuelle Zahlen liefert hierzu eine kürzlich veröffentlichte Studie [Goffrier 2017], die erstmals auf der Basis aller bundesweit erfassten ärztlichen Abrechnungsdaten die Häufigkeit des Typ-2-Diabetes ermittelte. In nur 6 Jahren stieg der Anteil der gesetzlich Versicherten von 8,9 % im Jahr 2009 auf 9,8 % im Jahr 2015 an. Insgesamt hat damit jeder 10. Bundesbürger Diabetes: 9,2 % in den alten und 11,8 % in den neuen Bundesländern. Während die Forscher im bayerischen Starnberg nur bei 6,5 % der Bevölkerung Diabetes feststellten, waren es im äußersten Nordwesten von Brandenburg, im Kreis Prignitz, mit 14,2 % mehr als doppelt so viele. Die gesundheitspolitisch brisanteste Zahl betrifft die Zahl der Neuerkrankungen: Rund 500 000 Menschen erhalten pro Jahr in Deutschland zum ersten Mal die Diagnose Typ-2-Diabetes.

Mangelnde Umsetzung von ­Präventionsmaßnahmen

Zwar wurde in Deutschland die Prävention des Typ-2-Diabetes schon im Jahr 2003 mit der Formulierung „Diabetes mellitus Typ 2: Erkrankungsrisiko senken, Erkrankte früh erkennen und behandeln“ als eines der wichtigsten nationalen Gesundheitsziele definiert und am 18. ­Juni 2015 auch in das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz, PrävG) übernommen. Allerdings greifen diese Maßnahmen in Deutschland kaum, es fehlt in Deutschland ein koordiniertes Vorgehen zur Prävention des Typ-2-­Diabetes im Sinne einer Nationalen Diabetes-­Strategie. Diese sollte gleichermaßen einen Populationsansatz („Verhältnisprävention“: Maßnahmen, um gesunde Umweltbedingungen zur Förderung eines gesunden Lebensstils zu etablieren) als auch einen Hochrisikoansatz („Verhaltens­prävention“: Identifikation von Risikopersonen und Angebot gezielter Maßnahmen zur Prävention des Typ-2-Diabetes) umsetzen.

Es gibt eine Reihe von Herausforderungen bei der Prävention des Typ-2-Diabetes, die digitale Angebote sinnvoll erscheinen lassen.

Dass dies möglich ist, zeigen andere Länder wie England, Finnland oder die USA, die vor allem die strukturierte Unterstützung bei der Lebensstilmodifikation bei Hochrisikopersonen umsetzen – zunehmend auch mit digitaler Hilfe. So zeigt die aktuelle Auswertung des im Jahr 2010 vom amerikanischen Kongress verabschiedeten „National Diabetes Prevention Program“, dass es den meisten Teilnehmern gelang, basierend auf den Prinzipien der DPP-Studie ihr Gewicht zu reduzieren und die körperliche Aktivität zu steigern. Von den aktuell 1 701 (12/2018) von den „Centers for Disease Control and Preven­tion“ im Rahmen des „National Dia­betes Prevention Program“ zugelassenen Präventions-Programmen sind mittlerweile nicht wenige digital unterstützt.

England schaffte es, innerhalb von nur 4 Jahren ein nationales Diabetespräventionsprogramm umzusetzen, welches ebenfalls bislang sehr gute Ergebnisse aufweist und zeigt, dass mit Hilfe einer Nationalen Diabetes-Strategie (NHS Dia­betes Prevention Programme, NHS DPP) eine Umsetzung der Prävention des Typ-2-Dia­betes gelingen kann. Im Moment erfolgt eine Ausschreibung des NHS, um zu prüfen, ob digitale Ansätze ähnliche Ergebnisse erbringen wie Gruppenangebote zur Lebensstilintervention – und ob damit Menschen erreicht werden können, die bisher nur schwer für das Thema „Prävention des Typ-2-Diabetes“ zu begeistern sind.

Was können digitale Ansätze leisten?

Es gibt eine Reihe von Herausforderungen bei der Prävention des Typ-2-Diabetes, die digitale Angebote sinnvoll erscheinen lassen:

  • Die Anzahl von Personen, die entweder über ihr persönliches Diabetesrisiko informiert oder gezielt in Hinblick auf die Entwicklung des Typ-2-Diabetes gescreent werden sollten, ist sehr hoch. Digitale Lösungen sind hierbei unter Umständen effektiver und vor allem effizienter als traditionelle „analoge“ Vorgehensweisen.
  • Wahrscheinlich gibt es unterschiedliche Subtypen von Personen bezüglich des individuellen Risikos für einen manifesten Diabetes. Diese sprechen auch individuell anders auf verschiedene therapeutische Ansätze (Lebensstiländerung, Medikation) an. Im Sinne einer „personalisierten Typ-2-Diabetes-Prävention“ können zukünftig mittels Algorithmen große Datensätze (Big Data) entsprechend analysiert werden, um personalisierte Therapieansätze zu entdecken.
  • Für die Diagnose des Diabetes ist bislang entweder ein oraler Glukosetoleranztest oder eine Blutentnahme (z. B. Nüchtern­glukose) nötig. Rund 2 Mio. Menschen in Deutschland wissen bislang nichts von ihrem Typ-2-Diabetes; also können digitale Anwendungen eventuell dazu beitragen, Personen mit einem bislang unentdeckten Typ-2-Diabetes frühzeitig zu identifizieren.
  • Die fehlende Motivation zur Teilnahme an Maßnahmen zur primären Prävention ist in der Praxis besonders bei Personen mit einem erhöhten Typ-2-Diabetes-Risiko und einem eher geringen Problembewusstsein eine große Herausforderung. In der schon erwähnten Ausschreibung in England soll daher untersucht werden, inwieweit mit digitalen Möglichkeiten die Schwelle zur Teilnahme an Präventionsmaßnahmen gesenkt und die Motivation zur Lebensstilmodifikation gesteigert werden kann.
  • Programme zur Lebensstil­inter­vention haben in Bezug auf die Prävention des Typ-2-Diabetes momentan die beste Evidenz. Es gibt mittlerweile viele digitale Interventionen, die sowohl auf die Phase der Verhaltensänderung („Verhaltensmodifikation“) als auch auf die daran anschließende Phase der Stabilisierung der Lebensstiländerung („Maintenance“) abzielen.
  • Bei der Prävention des Typ-2-Diabetes sind unterschiedliche Professionen beteiligt (z. B. Ärzte, Ernährungs- und Sportfachleute, Psychologen), so dass digitalisierte Formen des Informationsaustauschs sowie der Dokumentation (z. B. elektronische Präventionsakte) sinnvoll sind.
  • Für Maßnahmen der Verhältnisprävention sind digitale Ansätze ebenfalls sehr sinnvoll, um z. B. mittels Analyse großer Datenmengen Zusammenhänge für förderliche oder hindernde Faktoren für die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes herauszufinden.

Evidenz der digitalen ­Diabetesprävention

Ein Blick auf die Literatur der letzten Jahre zeigt zum einen, dass es eine große Vielzahl unterschiedlicher digitaler Ansätze zur Prävention des Typ-2-Diabetes gibt: Von klassischen Medien wie Telefon, Fax, SMS-Nachrichten über webbasierte Interventionen, Apps, virtuelle Gruppen bis hin zur Verwendung künstlicher Realität (Virtual Reality) existieren viele praktische Ansätze und wissenschaftliche Studien zum Thema.

Inzwischen liegt eine ausreichende Evidenz für digitale Präventionsansätze bei Typ-2-Dia­betes vor.

Zum anderen gibt es mittlerweile eine schnell wachsende und methodisch immer besser werdende Studienlage zur digital unterstützten Prävention des Typ-2-Diabetes, die bereits in mehreren systematischen Reviews zusammengefasst wurde [Grock 2017, Bian 2017, Galaviz 2018]. Die Ergebnisse lassen den vorsichtigen Schluss zu, dass inzwischen durchaus eine ausreichende Evidenz für digitale Präventionsansätze bei Typ-2-Diabetes vorliegt.

Risiko für Typ-2-Diabetes digital ­bestimmen

Schätzungsweise rund 30 bis 40 % aller Bundesbürger haben eine genetische Disposition für Typ-2-Diabetes. In Kombination mit den wichtigsten Risikofaktoren Alter, Adipositas und körperliche Inaktivität ergibt sich damit eine große Zahl von Menschen, die ein erhöhtes Risiko aufweisen, an Typ-2-Diabetes zu erkranken. Bislang gibt es in Deutschland keinen systematischen Ansatz, Menschen über ihr persönliches Diabetesrisiko zu informieren. Auch existiert mit dem Check-up 35 nur ein Programm zur Früherkennung eines Typ-2-Diabetes, welches allerdings nur von weniger als 20 % aller Versicherten in Anspruch genommen wird und sich ausschließlich an Personen richtet, die regelmäßig zum Arzt gehen – was gerade bei jüngeren Menschen oft nicht der Fall ist.

Sinnvoll wäre, das Diabetesrisiko von Personen systematisch zu erfassen

Es liegt auf der Hand, dass es im Sinne einer Nationalen Präventions-Strategie sinnvoll wäre, systematisch das Risiko von Personen bezüglich des Diabetes zu erfassen und dies den Betroffenen in geeigneter Form mitzuteilen. Das individuelle Typ-2-Diabetes-Risiko kann mit Hilfe evaluierter und etablierter Risiko-­Scores (z. B. DIfE: Deutscher Diabetes-Risiko-Test® [DRT], Findrisk) einfach erhoben werden. Dazu wäre es allerdings notwendig, dass von den Ärzten – denen bei der Risikobestimmung und Diagnose eine wichtige Funktion zukommt, weniger bei der Umsetzung von Präventionsmaßnahmen – systematisch nachgefragt wird, ob z. B. in der Familie Typ-2-Diabetes aufgetreten ist, und das aktuelle Gewicht der Patienten bestimmt wird. Beides wird in Deutschland jedoch zumeist nicht systematisch erhoben und ausgewertet.

Risikotests könnten in die elektronische Patientenakte integriert werden, so dass das Risikoprofil auch von jedem Versicherten selbst bestimmt werden kann.

Würde man dies entsprechend dem Vorbild England ändern, könnte man in ähnlicher Weise mit entsprechenden Algorithmen auf Knopfdruck und systematisch in bestimmten Zeitabständen das individuelle Typ-2-Diabetes-Risiko bestimmen und darauf basierend spezifische präventive Maßnahmen ableiten. Solche Risikotests könnten auch in die elektronische Patientenakte integriert werden, so dass das Risikoprofil auch von jedem Versicherten selbst bestimmt werden kann.

Der gesundheitsbewusste Patient von morgen wird seine Gesundheitsdaten selbst erheben, von einem Supercomputer auswerten lassen und sofort konkrete Präventionsempfehlungen wie auch einen Überblick bzw. Links zu vielfältigen (digitalen) Präventionsangeboten zum Verhindern der Manifestation eines Typ-2-Diabetes erhalten.

Gesundheitsdaten erheben – Diabetesrisiko bestimmen

Durch die weite Verbreitung von Wearables ist es mittlerweile auch möglich, anhand der gesammelten Daten mit Hilfe von Algorithmen Risiken für das Auftreten bestimmter Krankheiten zu bestimmen. Eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung amerikanischer Forscher [Ballinger 2018] kam zu dem Schluss, dass mit einem Smart-Device wie der Apple Watch in Kombination mit einem selbstlernenden Algorithmus sich annähernd das individuelle Typ-2-Diabetes-Risiko vorhersagen lässt. Hierzu nutzt das Device die Tatsache, dass der Ruhepuls und Unterschiede im Herzschlag mit der Diabetes-Erkrankung korrelieren. Dies wurde u. a. bereits in der Framingham-Heart-Studie und der ARIC-Studie belegt. Mit der neuen Anwendung „Cardiogram“ werden mit Hilfe der Apple Watch die Herzfrequenz- und Schrittzählmessungen der User erfasst. Ein selbstlernender Algorithmus, basierend auf künstlicher Intelligenz, analysiert die Herzfrequenzmessungen sowie körperliche Aktivität und erkennt damit Veränderungen des jeweils individuellen Gesundheitszustands. In der Studie mit mehr als 14 000 Apple-Watch-Nutzern, die den Forschern Daten von mehr als 200 Mio. Herzfrequenz-/Schrittzählmessungen zur Verfügung stellten, konnten abnormale Herzrhythmen mit einer Genauigkeit von 97 %, Schlafapnoe mit einer Genauigkeit von 90 %, Typ-2-Diabetes mit einer Genauigkeit von 85 % und Bluthochdruck mit einer Genauigkeit von 82 % festgestellt werden.

Schnelltest zur Diabetes-Diagnose?

Einen ganz anderen Weg beschreiten Forscher der Universität des Saarlands: Hier hat die Arbeitsgruppe um den Experimentalphysiker Ale­xander Kihm ein Verfahren entwickelt, das mit Hilfe künstlicher Intelligenz die Form von Blutzellen klassifiziert, was künftig die Entwicklung eines Schnelltests für Diabetes mellitus, Malaria oder Sichelzellanämie ermöglichen könnte [Kihm 2018]. Die Physiker haben eine Analyse-Software entwickelt, die – basierend auf künstlicher Intelligenz mit neuronalen Netzwerken – mit Hilfe von Algorithmen und selbstlernender Mustererkennung rasch große Mengen von Zellen entsprechend ihren charakteristischen Krümmungen und Wölbungen identifizieren kann. Bei Diabetes analysieren sie besonders die Steifigkeit der Blutzellen, die laut den Wissenschaftlern ein charakteristisches Merkmal bei erhöhten Blutzuckerwerten ist.

Apps als Hilfe zur ­Lebensstilintervention

Mittlerweile gibt es eine Reihe von Apps, die eine gesündere Ernährung, eine Gewichtsreduktion und Steigerung der körperlichen Bewegung zum Ziel haben. Ein Beispiel für eine weiterentwickelte App zur Prävention des Typ-2-Diabetes ist die App „Sweetch Health“, die künstliche Intelligenz nutzt, um verschiedene Daten, die routinemäßig über ein Smartphone oder andere digitale Quellen (z. B. digitale Waage) erhoben werden, mit den Lebensgewohnheiten der Nutzer zu verknüpfen. So werden den Usern personalisierte, zeitlich und örtlich passende Präventionsempfehlungen gegeben. Vorschläge für mehr Bewegung im Alltag werden so z. B. mit dem persönlichen Kalender des Smart­phones abgeglichen und nur dann angezeigt, wenn der Nutzer freie Zeit hat. Die Vorschläge werden über GPS mit der unmittelbaren Umgebung der Personen abgestimmt (z. B. Treppen, in der Nähe befindliche Parks, Spazierwege etc.). Diese Vorschläge sollen die Nutzer dabei unterstützen, ihre Ziele hinsichtlich der Verbesserung der Bewegungsgewohnheiten und des Gewichtsverlusts zu erreichen. Die App macht darüber hinaus individuelle Vorschläge zum Aufteilen des Bewegungsziels von 150 Minuten Aktivität pro Woche in kleine, erreichbare Ziele.

Die App zeigt Erfolge graphisch an, und es erfolgt ein motivierendes Feed­back bei Erreichen des Ziels und eine aufmunternde Nachricht bei Nichterreichen.

Die Erfolge beim Umsetzen der Ziele werden graphisch angezeigt und es erfolgt ein unmittelbares, motivierendes Feedback bei Erreichen des Ziels und eine aufmunternde Nachricht bei Nichterreichen. In einer Pilotstudie mit 55 Teilnehmern konnten die Entwickler nachweisen, dass die App in Hinblick auf die Reduktion des Körpergewichts und die Steigerung der körperlichen Bewegung erfolgreich ist [Everett 2018].

Digitalisierung des Diabetes-­Präventions-Programms

Die Effektivität von Interventionen zur Lebensstiländerung wurde in großen Studien wie der chinesischen Da-Qing-Studie, der finnischen Dia­betes Prevention Study (DPS) und vor allem dem amerikanischen Diabetes Preven­tion Program (DPP) nachgewiesen, deren erste Ergebnisse bereits zwischen 1997 und 2002 publiziert wurden.

Wichtig: Eine Interven­tion zur Lebensstilveränderung sollte den Teilnehmer mindestens über ein Jahr begleiten.

Forscher beziehen sich bei dem Transfer der Programme auf den klinischen Alltag unter Praxisbedingungen bzw. bei der Entwicklung digitaler Projekte häufig auf die DPP-Studie, da hierzu klare Curricula und Analysen der Wirkfaktoren vorliegen. Da die DPP-Studie als Benchmarking gilt, beziehen sich viele Digitalisierungsstudien auf diese Studie (die face-to-face im Einzelkontakt durchgeführt wurde) und versuchen, deren Inhalte in eine digitale Welt zu übertragen.

Stabilisierung der Veränderung

Basierend auf den DPP-Ergebnissen ist es wichtig, neben der Lebensstilveränderung auch auf die Stabilisierung der Veränderung zu fokussieren, Techniken der Verhaltensmodifikation (z. B. Goal Setting, Selbstmonitoring, Verhaltensplan, Rückfallprophylaxe) sowie das Einbeziehen anderer Personen (Social Support) als wichtige Wirkfaktoren für Interventionen zur Lebensstilmodifikation zu berücksichtigen. Darüber hinaus sollte die Intervention über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr die Teilnehmer begleiten.

Stellvertretend für viele ähnliche Studien sollen drei erfolgreiche Projekte vorgestellt werden, die eine Übertragung der DPP-Kernelemente in das digitale Zeitalter untersucht haben:

  • Amerikanische Forscher übersetzen die DPP-Studie in eine digital unterstützte Form mit 16 digitalen Interventionen. Die Teilnehmer erhalten zusätzlich einen persönlichen Gesundheitscoach und nehmen an einer virtuellen Gruppe („Omada Health Program“) teil. In einer nichtrandomisierten Studie mit 220 Personen mit Prädiabetes konnten die Teilnehmer, die mindestens an 4 Sitzungen teilgenommen hatten, nach 3 Jahren eine Gewichtsreduktion von 3 % des Körpergewichts und eine HbA1c-Reduktion von 30 % aufweisen [Sepah 2017].
  • Ebenfalls aus Amerika stammt ein Programm mit ebenfalls 16 Sitzungen, von denen nur 6 im Einzelkontakt stattfinden, der Rest webbasiert. Die Teilnehmer erhalten eine App, einen Schrittzähler sowie Tools zur Selbstbeobachtung und zum Selbstmanagement. In einer randomisierten Studie nahmen die Teilnehmer der Interventionsgruppe innerhalb von 5 Monaten signifikant stärker ab (-6,8 % des Körpergewichts) als die Kontrollgruppe, bewegten sich häufiger und hatten ihre Ernährung nachhaltig umgestellt [Fukuoka 2015].
  • Auch ein entsprechend den Wünschen und Bedürfnissen der Teilnehmer angepasstes Programm mit festen digitalen Lektionen, dem Zugang zu einer individualisierten Website und wöchentlichen E-Mails zum Verstärken erzielte in einer randomisierten Studie nach 6 Monaten im Vergleich zu einer Kontrollgruppe klinisch bedeutsame Effekte im Sinne einer verbesserten glykämischen Kontrolle, eines Gewichtsverlusts und einer Risikoreduktion [Block 2015].

Virtuelle Realität

Mehrere Projekte zur digitalen Diabetesprävention integrierten Methoden der virtuellen Realität, um Probehandlungen durchführen zu können und das Verhalten in schwierigen Situationen einzuüben. In einem türkischen Projekt begaben sich die Teilnehmer mit Hilfe einer Datenbrille in eine virtuelle Cafeteria mit einem Buffet mit 64 Essens- und 7 Getränke-Optionen und verschiedenen Portionsgrößen der einzelnen Zutaten. Die Aufgabe der Teilnehmer bestand darin, sich verschiedene Mahlzeiten zusammenzustellen und den KE/BE- sowie den Kaloriengehalt der Nahrungsmittel und Gerichte zu bestimmen. In einem amerikanischen Projekt wurde virtuelle Realität vor allem dazu genutzt, digitale Anwendungen zu personalisieren und neben wissensbasierten Inhalten auch handlungsorientierte Elemente zu integrieren.

Verhältnisprävention

Als eine wichtige Maßnahme zur Verhältnisprävention fordern die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe zusammen mit der „Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK)“ eine Reduktion des Zuckergehalts von Softdrinks um 50 %. Hilfreich kann dabei eine „­Sugar ­Intake“-App sein, die von dem „Monterrey Institute of Technology and Higher Education” in Mexiko entwickelt wurde. Die App zeigt den Zuckergehalt von Getränken an und speichert diesen im App-eigenen Tagebuch, so dass der Tageskonsum an Zucker beobachtet werden kann. Zudem gibt die App Empfehlungen zum Zuckerkonsum basierend z. B. auf Alter, Gewicht und anderen Faktoren.

Der DIAB-CORE-Verbund des Deutschen Zen­trums für Diabetesforschung (DZD) konnte zeigen, dass in Gegenden mit einer hohen Diabetesprävalenz weniger die individuelle soziale Situation des Einzelnen, sondern eher eine „diabetogene Umgebung“ für die erhöhte Dia­be­tes­prävalenz verantwortlich ist – mit Faktoren wie Lärm, erhöhter Schadstoffbelastung (z. B. hoher Konzentration an Feinstaub und anderen Luftschadstoffen), der Verfügbarkeit von Fastfood in der Umgebung, aber auch städtebaulichen Lebensbedingungen, die es weniger wahrscheinlich machen, dass Dinge des Alltags zu Fuß erledigt werden (Walkability) [Tamayo 2014]. Diese Faktoren können im Sinne eines Dataminings und -mappings zu einem regionalen „Diabetes-Risiko-Index“ zusammengeführt werden, so dass für die Politik konkrete Ansätze zur Verhältnisprävention aufgezeigt werden können.

In der Forschung kommen zunehmend Methoden zur Analyse von Big Data zur Anwendung: z. B. neuronale Netze, Deep Learning.

Da der Effekt von Maßnahmen zur Verhaltens­prävention zudem in der Regel nur durch das Zusammenführen umfangreicher Datenquellen und Simulationsstudien nachzuweisen ist, kommen in der Forschung zunehmend Methoden zur Analyse von Big Data (z. B. neuronale Netze, Deep Learning) zur Anwendung.

Ausblick

Digitale Präventionskonzepte werden angesichts der großen Zahl von Betroffenen in der Zukunft bei der Aufklärung über gesundheitliche Risiken, bei Screeningmaßnahmen, der Früh­dia­gnostik und Interventionen zur Reduktion des Typ-2-Dia­betes-Risikos an Bedeutung zunehmen. Hierbei zeigen allerdings die Erfahrungen mit digitalen Präventionsmaßnahmen, dass es auch gilt, Barrieren der Nutzung wie hohe Abbruchraten und mangelnde Nutzung von Personen mit einem hohen Diabetesrisiko zu identifizieren. Auch sollten „Head-to-Head-Studien“ (Vergleich digitaler Angebote mit traditionellen Präventionsmaßnahmen) und Studien zur „Kosten-Nutzen-Bilanz“ aufzeigen, in welchen Bereichen digitale Konzepte effektiv und effizient sind bzw. ihre Stärken und Schwächen haben.


Quellen:

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Autoren:

Prof. Dr. Bernhard Kulzer
FIDAM GmbH, Forschungsinstitut Diabetes-Akademie Bad Mergentheim, Johann-Hammer-Str. 24, 97980 Bad Mergentheim

Dr. Jens Kröger
Zentrum für Diabetologie Bergedorf, Glindersweg 80, Haus E, 21029 Hamburg