Prof. Dr. Bernhard Kulzer

Künstliche Intelligenz in der Diabetestherapie

Der zukünftige medizinische Fortschritt ist eng mit der Nutzung von Big Data und künstlicher Intelligenz verbunden, mit dem Ziel einer prädiktiven, präventiven, personalisierten und partizipativen Dia­betologie auf der Basis immer besserer Daten-gestützter Entscheidungen.

Die Anwendung von künstlicher Intelligenz (KI) in der Diabetologie fasziniert, inspiriert und lässt von einer Welt träumen, in der Diabetes besser, gerechter, individueller, präziser, personalisierter und kostengünstiger behandelt wird – im besten Fall sogar zu einer Heilung des Dia­betes beiträgt oder, wie bei Typ-1-Diabetes, eine Art „künstliche Heilung“ durch KI-unterstützte Algorithmen in den Systemen zur automatisierten Insulin-Dosierung (AID-Systemen) möglich macht. Die immer größer werdende Menge an verfügbaren digitalen Gesundheitsdaten und -informationen sowie die sich immer schneller entwickelnden Modelle der KI wecken weltweit große Hoffnungen, dass sich mit KI die medizinische Forschung, Therapie und Versorgung des Diabetes deutlich verbessern.

Aber bei den meisten Menschen gibt es beim Thema KI noch andere Assoziationen: undurchschaubar, nicht mehr zu verstehen, ein Gefühl der Unterlegenheit als Mensch und Bedenken, dass wie bei der Büchse der Pandora die KI entweicht und die Entwicklung des Menschen fortan bestimmt und zu eher negativen Auswirkungen auf das Leben führt. Überwachung statt Freiheit, Schema-F-Medizin statt persönlicher Begegnungen zwischen dem Diabetesteam und Menschen mit Diabetes, maximale Transparenz statt Privatsphäre, Technik statt Menschlichkeit.

„Unsere Zukunft ist ein Wettlauf zwischen der wachsenden Macht der Technologie und der Weisheit, mit der wir sie nutzen.“ Stephen Hawking

Ethik und Steuerung der KI im ­Gesundheitswesen

Genau mit diesem Spagat zwischen den Chancen und Risiken der KI beschäftigt sich ein 2021 veröffentlichter Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit dem Titel „Ethics and Governance of Artificial Intelligence for Health. WHO Guidance“. Mit dem Zitat von Stephen Haw­king „Unsere Zukunft ist ein Wettlauf zwischen der wachsenden Macht der Technologie und der Weisheit, mit der wir sie nutzen“ beschreibt Dr. Soumya Swaminathan, leitende Wissenschaftlerin der WHO, in der Einleitung das ethische Spannungsfeld der KI [World ­Health Organi­zation 2021].

„Künstliche Intelligenz (KI) hat ein enormes Potenzial, die Gesundheitsversorgung und die Medizin zu verbessern und allen Ländern dabei zu helfen, eine allgemeine Gesundheitsversorgung zu erreichen. Dazu gehören eine verbesserte Dia­gnostik und klinische Versorgung, eine verbesserte Gesundheitsforschung und Arzneimittelentwicklung sowie verbesserte Interventionen im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens wie eine Surveillance von Krankheiten, Reaktionen auf Krankheitsausbrüche und das Management von Gesundheitssystemen.“ (Seite v)

Aber auch: „Damit sich KI positiv auf die öffentliche Gesundheit und die Medizin auswirken kann, müssen ethische Erwägungen und die Menschenrechte bei der Konzeption, Entwicklung und dem Einsatz von KI-Technologien im Gesundheitswesen im Mittelpunkt stehen.“ (…) Ob KI die Interessen von Patienten und der Gesellschaft fördern kann, hängt von einer kollektiven Anstrengung ab, ethisch vertretbare Gesetze und Regelungen zu entwerfen und umzusetzen und ethisch vertretbare KI-Technologien einzusetzen. Wenn ethische Grundsätze und Menschenrechtsverpflichtungen von denjenigen, die vorrangig die KI-Technologien für die Gesundheit finanzieren, entwickeln, regulieren oder nutzen, nicht eingehalten werden, gibt es potenziell auch schwerwiegende negative Folgen. Die Chancen der KI und Herausforderungen sind somit untrennbar miteinander verbunden.“ (Seiten v, xi)

Sechs Grundsätze für den ethischen KI-Einsatz in der Medizin

In dem Bericht werden die ethischen Herausforderungen und Risiken aufgezählt, die mit dem Einsatz von KI im Gesundheitswesen verbunden sind. Es werden sechs Grundsätze für den ethischen KI-Einsatz in der Medizin genannt, die sicherstellen sollen, dass KI zum individuellen und öffentlichen Nutzen eingesetzt wird und nicht schadet.

1. Schutz der menschlichen Autonomie: Der Einsatz von KI kann zu Situationen führen, in denen die Entscheidungsgewalt an Maschinen übertragen werden könnte. Der Grundsatz der Autonomie verlangt jedoch, dass der Mensch weiterhin die Kontrolle über Gesundheitssysteme und medizinische Entscheidungen behält. Die Achtung der menschlichen Autonomie bringt auch die Verpflichtung mit sich, dafür zu sorgen, dass Menschen die KI-Anwendungen verstehen und kontrollieren können. Wie auch aktuell in den meisten Ländern gesetzlich verankert, verlangen auch KI-Anwendungen in der Medizin eine gültige Einwilligung der Patienten nach einer Aufklärung und unter Wahrung des Datenschutzes und der Intimsphäre des Menschen.

Dies bedeutet z. B. bei AID-Systemen, dass Ärzte die wichtigsten Prinzipien von AID-Algorithmen mit KI verstehen und nachvollziehen müssen, damit ein entsprechendes Aufklärungsgespräch über die Vor- und Nachteile, die Chancen und Risiken eines bestimmten AID-Systems mit den Anwendern erfolgen kann. Dies ist Voraussetzung für eine partizipative Entscheidung zum Schutz der Autonomie des Patienten. Denn mit der zunehmenden Verbreitung von KI-Systemen besteht die Gefahr, dass die Verantwortung für die Entscheidungsfindung auf Algorithmen übertragen wird, die nur unzureichend verstanden werden.

Der Grundsatz der ­Autonomie verlangt, dass der Mensch die Kontrolle über ­Gesundheitssysteme und ­medizinische ­Entscheidungen behält.

2. Wohlergehen, Sicherheit und Verhindern von Schäden: Das grundlegende ärztliche ethische Prinzip des Schadenverhinderns (primum non nocere) und Handelns zum Wohl des Patienten ist auch bei der KI gültig. Die Entwickler von KI-Technologien müssen die regulatorischen Anforderungen an Sicherheit, Genauigkeit und Wirksamkeit sowie Maßnahmen zur Qualitätskontrolle in der Praxis genauso erfüllen wie traditionelle diagnostische oder therapeutische Interventionen. Das Prinzip des Schadenverhinderns erfordert, dass KI nicht zu psychischen oder körperlichen Schäden führen darf, die durch die Anwendung einer alternativen Methode ohne KI verhindert werden könnten.

Obwohl es mittlerweile sehr gute Daten zu KI-unterstützten Diagnose-Systemen zum Erkennen einer diabetischen Retinopathie gibt, warnte die Initiativgruppe „Früherkennung dia­be­ti­scher Augenerkrankungen“ Anfang 2022 mit Hinweis auf eine amerikanische Studie [Lee 2021] vor KI-gestützten Diagnostik-Systemen. In der Real-World-Studie wurde die Treffsicherheit von Bilderkennungs-Systemen bei der Beurteilung Alltags-typischer Netzhautfotos von Patienten mit Diabetes mellitus mit der Leistung von menschlichen Gutachtern verglichen. Bei den Daten von 311 604 Bildern der Retina von 23 724 Personen schwankte zum einen die korrekte Erkennungsrate der KI-unterstützten Bilderkennungs-Geräte zwischen 51 und 86 %, zum anderen erfolgte bei positiven Befunden zu selten die Überweisung zum Augenarzt. Die Initiativgruppe sieht damit keinen Vorteil, jedoch ein erhöhtes Schadensrisiko für Patienten und fordert, dass alle derartigen Algorithmen vor ihrer klinischen Anwendung gründlich in der klinischen Praxis getestet werden sollten [Ärzteblatt 2022].

3. Transparenz, Erklärbarkeit und Verständlichkeit: KI-Technologien sollten für Entwickler, Mediziner, Patienten, sonstige Nutzer und Regulierungsbehörden verstehbar und verständlich sein. Transparenz setzt voraus, dass ausreichend Informationen über eine KI-Technologie veröffentlicht oder dokumentiert sind, bevor die Technologie entwickelt oder eingesetzt wird, und dass diese Informationen eine sinnvolle öffentliche Debatte darüber ermöglichen, wie die Technologie konzipiert ist und wie sie eingesetzt werden soll.
Aktuell basieren fast alle Anwendungen von KI bei Diabetes auf „schwachen KI-Systemen“, welche bestimmte Daten mit verschiedenen KI-Methoden (z. B. „Deep Learning“, Methoden des „maschinellen Lernens“) analysieren. Dies trifft z. B. für alle bisherigen Algorithmen bei AID-Systemen oder Diabetes-Expertensystemen für Ärzte oder Patienten zu. Diese KI-Systeme sind gut nachvollziehbar und können transparent dargestellt werden. Schwieriger wird es, wenn „starke KI-Systeme“ mit Fähigkeiten, die der menschlichen Intelligenz ähneln (z. B. Denken, Fühlen, Verhalten, Sprechen), zum Einsatz kommen, die bei unbekannten Aufgaben mit genügend KI selbstständig Lösungen finden und diese immer wieder adaptieren und optimieren. Hierbei ist es viel schwieriger, die Lösungswege nachzuvollziehen und transparent darzustellen, was bei Themen, die die Gesundheit betreffen – und wie im Fall von AID-Systemen zu potenziell lebensbedrohlichen Situationen führen kann –, natürlich essenziell ist. Um die geforderte Transparenz sicherzustellen, muss es externe Überprüfungen geben und es müssen entsprechende Kontroll-Instanzen eingeführt werden.

4. Verantwortung, Rechenschaftspflicht: Für das Programmieren und Durchführen von KI-Anwendungen muss es klare Verantwortlichkeiten geben, welche auch Haftungsfragen und eine Rechenschaftspflicht einschließen („menschliche Garantie“). Bei diagnostischen Anwendungen, deren Ergebnisse für Menschen mit Diabetes von erheblicher Relevanz sind (z. B. Überlebens-Wahrscheinlichkeit nach Herzinfarkt, Schlaganfall, Amputation), muss gefordert werden, dass zum einen der Algorithmus für Regulierungsbehörden und auch interessierte Fachleute transparent verfügbar ist und ein Unternehmen sich nicht hinter zu schützenden Patenten verstecken kann. Zum anderen muss der Bereich der Irrtums-Wahrscheinlichkeit angegeben werden, damit Anwender nachvollziehen können, wie zuverlässig und gültig die Aussagen einer KI-Anwendung sind. Vor allem, wenn verschiedene Komponenten interagieren – wie dies z. B. bei den AID-Systemen der Fall ist – muss die Haftungsfrage für das Gesamtsystem geklärt sein, sodass die Nutzer nicht in der Beweispflicht sind, nachzuweisen, wo ein möglicher Fehler liegt, ohne den oder die dahinterliegenden KI-Algorithmen zu kennen.

5. Inklusion, Benutzerfreundlichkeit, Gerechtigkeit: Inklusion setzt voraus, dass KI-Anwendungen im Gesundheits-Kontext so konzipiert sind, dass möglichst viele Menschen unabhängig von ihrem Alter, Geschlecht, Einkommen, ihrer Rasse, ethnischen Zugehörigkeit, sexuellen Orientierung, ihren Fähigkeiten oder anderen durch Menschenrechts-Kodizes geschützten Merkmalen KI-Anwendungen nutzen können. Dazu gehört auch, dass Menschen mit etwaigen Einschränkungen nicht von der Nutzung ausgeschlossen sind. KI-Technologien dürfen vor allem nicht zu Diskriminierung, Vorurteilen oder Nachteilen bestimmter Gruppen der Gesellschaft führen. Keine Technologie, weder KI noch andere, sollte bestehende Formen von Vorurteilen und Diskriminierung unterstützen oder verschlimmern.

KI-­Technologien ­dürfen nicht zu ­Diskriminierung, ­Vorurteilen oder ­Nachteilen ­bestimmter Gruppen führen.

Dieser Punkt adressiert eine ganz wichtige Gefahr und Limitation bei der Anwendung von KI-Modellen. Ausgangspunkt für KI-Anwendungen sind Daten, aus denen mit bestimmten Rechen-Operationen bestimmte Schlussfolgerungen gezogen werden. Gerade bei Diabetes fallen sehr viele unterschiedliche Daten an, die mit KI vollständig analysiert werden können – auch, um Trends und Beziehungen zwischen Daten-Punkten zu erkennen, die zuvor von Daten-Wissenschaftlern nicht vorhergesehen wurden. Allein mit den Glukosedaten und ergänzenden Daten des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens lassen sich nicht nur Glukosemuster analysieren, sondern auch Muster z. B. des Sexualverhaltens, des Alkoholkonsums, möglicher psychischer Störungen, des Bewegungsradius oder viele andere Assoziationen erkennen – vor allem, wenn die Muster im Längsschnitt intraindividuell ausgewertet und personalisierte Muster extrahiert werden. Durch die Integration anderer inter­ope­rab­ler, Cloud-basierter Daten (z. B. Kaufverhalten, Diabetes-Online-Communitys) lässt sich somit ein sehr persönliches Profil, eine Typisierung einer Person vornehmen. Ohne regulatorische Bestimmungen wird sich dieses generelle Problem nicht lösen lassen, dass primär zu Therapie-­Zwecken geteilte Daten von Patienten auch zu ganz anderen Zwecken benutzt werden können und damit sehr intime, persönliche Eigenschaften offengelegt werden.

Die Güte von KI-Algorithmen hängt zudem sehr stark von der Qualität der Trainingsdaten ab, ebenso von der Beschaffenheit des zu analysierenden Datensatzes. Da Entwickler zumeist keine Bevölkerungs-basierten, repräsentativen Daten zur Verfügung haben, sind KI-Modelle sehr anfällig für eine Reihe von Verzerrungen, die eine eindeutige Bewertung der KI-Modelle äußerst schwierig machen. So können Daten, die an einer anderen Diabetes-Stichprobe gewonnen wurden, in einem anderen Kontext zu völlig falschen Schlussfolgerungen führen, da bestimmte Merkmale der Stichprobe völlig unterschiedlich sind. In dem lesenswerten Artikel „Stigma, biomarkers, and algorithmic ­bias: recommendations for precision behavioral ­health with artificial intelligence“ wird dies als die „algorithmische Voreingenommenheit“ bezeichnet [Walsh 2020]. Verschiedene Verzerrungen in den Datensätzen (z. B. in Hinblick auf gesundheitliche Ungleichheiten, Zugang zum Gesundheitssystem, Rasse, Geschlecht, Migration etc.) können ungünstige oder schädliche soziale Konstrukte verfestigen (kodifizierte Diskriminierung) oder zu eigenen diskriminierenden Schlussfolgerungen führen (inferentielle Diskriminierung) [Pham 2021].

Die Güte von ­KI-Algorithmen hängt sehr stark von der ­Qualität der ­Trainingsdaten ab.

6. Anpassungsfähigkeit, Nachhaltigkeit: KI-Systeme sollten im Rahmen eines kontinuierlichen Qualitätsmanagements ständig überprüft und angepasst sowie in Hinblick auf die Anwendung in der klinischen Praxis überprüft werden. Zudem sollten sie Energie-effizient konzipiert sein, sodass die Auswirkungen auf die Umwelt möglichst minimiert sind.
Die erste Forderung stimmt mit den Schlussfolgerungen der Initiativgruppe „Früherkennung diabetischer Augenerkrankungen“ überein. Der zweite Punkt adressiert ein Problem, was hinsichtlich der Anwendung von KI häufig ausgeblendet wird. Die Nutzung von KI verbraucht sehr viel Energie. Laut einer Studie der University of Massachusetts [Strubell 2019] werden wegen der hohen benötigten Rechenleistung für nur ein KI-Modell (getestet wurde ein Modell zum Erkennen von Sprache) 313 Tonnen CO2 verbraucht. Das ist das Fünffache der Energie, die ein Fahrzeug in seinem gesamten Lebenszyklus (inklusive Kraftstoff) verbraucht. Da die Behandlung des Diabetes wegen des hohen Materialbedarfs und Verpackungsmülls bereits eine eher schlechte ökologische Bilanz aufweist, sind KI-Anwendungen auch in Hinblick auf den Klimawandel kritisch zu hinterfragen. Zum Vergleich: Ein menschliches Gehirn verbraucht mit ca. 30 Watt pro Tag eine Leistungsmenge, von der die schnellsten Computer nur träumen können (… was sie aber leider nicht können, da sie eine Maschine sind).

Beurteilung der Güte von KI

Trotz des großen Potenzials von KI gibt es eine Reihe offener Fragen, wie KI-Modelle und Algorithmen bewertet werden sollen, um sichere und verlässliche Entscheidungen zu treffen. KI-Algorithmen sind komplex und hängen von der Qualität der Trainings-Daten ab. Es gibt eine Reihe von Verzerrungen, die eine eindeutige Bewertung der KI-Modelle äußerst schwierig machen. Um die methodische Güte von KI-Modellen auch für die klinische Praxis z. B. für Diabetologen transparent zu machen, gibt es mittlerweile einige Initiativen.

Von einer amerikanischen Arbeitsgruppe des Duke Institute for Health Innovation in Durham wurde ein „Model Facts Label“ vorgestellt, welches auf nur einer Seite die wichtigsten Informationen über ein KI-Modell für eine bestimmte Fragestellung zusammenfasst [­Sendak 2020]. Diese werden kurz nach der zugrunde liegenden Methodik und Messgüte beurteilt und es wird auf mögliche Verzerrungen und Limitationen hingewiesen. Es soll Ärzte, die Entscheidungen auf der Grundlage eines KI-Modells treffen, dabei unterstützen, die Aussagekraft des Modells für den klinischen Entscheidungs-Prozess zu beurteilen.

In einem mehrstufigen Prozess wurde von einer schwedischen Arbeitsgruppe eine Checkliste für die Interpretation von Ergebnissen der KI-Forschung „Clinical Artificial Intelli­gence Research“ (CAIR) entwickelt [Olczak 2021]. Die CAIR-Checkliste soll Forscher wie Kliniker gleichermaßen dabei unterstützen, die Ergebnisse der KI-Forschung für das Gesundheitswesen besser verstehen und bewerten zu können.
International gibt es mittlerweile auch Konsens-Vereinbarungen, welche methodischen Mindeststandards bei der Planung und Berichterstattung von KI-Studien gelten sollen. In Ergänzung zur SPIRIT-2013-Erklärung wurde mit SPIRIT-AI (Standard Protocol Items: Recommendations for Interventional Trials-Artificial Intelligence) in Nature Medicine ein neuer Leitfaden für klinische Studienprotokolle mit KI-Komponenten veröffentlicht. Dieser soll die Transparenz und Vollständigkeit von klinischen Prüfprotokollen für KI-Interventionen fördern [Rivera 2020]. Auch das weitverbreitete CONSORT-­Statement wurde um eine ­CONSORT-AI erweitert (Consolidated Standards of Reporting Trials-Artificial Intelligence), welches einen aktuellen Leitfaden für die Bericht­erstattung über klinische Studien mit KI darstellt [Liu 2020].

Erstes Positionspapier einer diabeto­logischen Fachgesellschaft zu KI

Um einerseits die Bedeutung von KI für Forschung, Diagnostik und Therapie des Diabetes zu unterstreichen und andererseits die Konsequenzen von KI für Menschen mit Diabetes, die klinische Praxis sowie das Gesundheitssystem aufzuzeigen, veröffentlichte die Italian Association of Medical Diabetologists als erste Fachgesellschaft ein Positionspapier zur KI in der Dia­be­tologie [Musacchio 2020].

In dem Artikel werden – wie in anderen aktuellen Übersichtsarbeiten [z. B. Klimontov 2021] – die wichtigsten Themenfelder der Diabetologie und mögliche Vorteile von KI in der Diabetologie skizziert. Die Autoren stellen fest, dass KI bereits heute aus der Diabetologie nicht mehr wegzudenken ist und zukünftig zu einem Quantensprung in der Diabetologie führen wird. Big Data und KI haben nach Auffassung der Autoren ein enormes Potenzial, Forschung, Prävention und Therapie zu verbessern sowie die Kosten des Diabetes zu verringern und als „Game-­Changer“ hin zu einer Daten-unterstützten Präzisionsmedizin zu fungieren. Sie beschreiben, dass der Einsatz von KI ermöglichen wird, die Daten, die bei der Therapie des Diabetes entstehen („deskriptiver Aspekt“), in Wissen über die Faktoren umzuwandeln, die das Verhalten und die Korrelationen und Assoziationen dieser Daten bedingen („prädiktiver Aspekt“). Dies führt im nächsten Schritt zur Identifizierung der Schlüsselfaktoren, die eine Verbesserung der erwarteten Ergebnisse und der Therapie und Prognose ermöglichen („präskriptiver Aspekt“). Wegen der großen Bedeutung von KI und Big-Data-Analysen möchten die italienischen Diabetologen eine proaktive Rolle in diesem nach ihrer Ansicht wesentlichen Prozess für die Verbesserung der Versorgung von Menschen mit Diabetes übernehmen. Gleichzeitig möchten sie eine konstruktive Debatte über die Chancen und Risiken von KI in der Diabetologie initiieren.

Big Data und KI haben ein enormes ­Potenzial, Forschung, ­Prävention und Therapie zu ­verbessern.

Forschung

In vielen Bereichen der Diabetesforschung (Grundlagenforschung, klinische Forschung, Versorgungsforschung) wird durch die Analyse großer Datensätze per KI nach neuen Zusammenhängen zwischen einzelnen Variablen gesucht [Mohanty 2021]. Die Analyse von Gen-Netzwerken ermöglicht es beispielweise, molekulare Interaktionen zu identifizieren, die für die Entwicklung von Diabetes und seiner Komplikationen wichtig sind, sowie neue Moleküle und molekulare Mechanismen zu finden. Dies gilt gleichermaßen für die „Omics“-Wissenschaften (Genomik, Proteomik, Metabolomik). KI-Anwendungen leisten gleichermaßen einen wichtigen Beitrag bei der Identifizierung der komplexen pathophysiologischen Prozesse, die dem Typ-1-Diabetes, dem Typ-2-Diabetes und dem Schwangerschaftsdiabetes zugrunde liegen, sowie verschiedener Subgruppen mit unterschiedlichen Risiko-Konstellationen und Prognosen. Ein weitergehendes Verständnis, welche Wechselwirkungen zwischen den zahlreichen prädisponierenden, vulnerablen und auslösenden Faktoren für die Entwicklung des Diabetes und seiner Komplikationen zugrunde liegen, ist entscheidend für die Entwicklung neuer personalisierter Präventions- und Behandlungs-Strategien zur Prävention, Therapie bzw. Heilung der Erkrankung.

Für die Versorgungs-­Forschung können ­Register-Daten, Daten aus ­Health Records oder Versicherungs-Daten mithilfe von KI analysiert werden.

Auch für die Entwicklung neuer Medikamente ist KI nicht mehr wegzudenken, da sie die Suche nach geeigneten Wirkstoffen beschleunigt. Verschiedene KI-Prognose-Modelle sagen mittlerweile mit immer größerer Genauigkeit vorher, wie potenzielle Medikamente mit Zielmolekülen im Körper interagieren und ob eine Medikamenten-Studie erfolgversprechend ist. Simulations-Studien auf der Basis großer Datenpools können verschiedene mögliche Inter­ak­tio­nen und Nebenwirkungen modellieren und damit Einzelschritte der Entwicklung eines Medikaments deutlich beschleunigen und Entwicklungskosten einsparen [Beck 2020]. KI wird auch bei der Suche nach dem Repurposing oder der Neupositionierung von bekannten Medikamenten für neue Indikations-Gebiete erfolgreich eingesetzt. Hierbei wird das Wissen über die molekulare Pharmakologie zahlreicher Arzneimittel-Kandidaten mit KI analysiert, um mögliche alternative Wirkweisen und -­orte zu finden [Mohanty 2021]. Ein sehr erfolgversprechender Ansatz im Sinne einer Präzisionsmedizin besteht darin, mithilfe von KI bestimmte Faktoren oder Subgruppen zu finden, die ein besseres Ansprechen auf ein bestimmtes Medikament ermöglichen. Dies führt zu mehr Wissen, ob das richtige Medikament für die richtige Person in der richtigen Dosis und richtiger Kombination mit anderen Medikamenten mit möglichst hoher Wirksamkeit und geringen Nebenwirkungen eingesetzt werden kann.

Ein großes Problem stellen oft große Unterschiede zwischen den Ergebnissen von randomisierten Studien und den Ergebnissen in der realen Versorgung dar. Für die Versorgungs-Forschung können Register-Daten, Daten aus ­Health Records oder Versicherungs-Daten mithilfe von KI analysiert werden. Dies ist besonders auch für den Bereich der Gesundheitsökonomie relevant, damit besser verstanden werden kann, welche Faktoren mit welcher Stärke und Ausprägung die Kosten des Diabetes beeinflussen. So konnte eine amerikanische Arbeitsgruppe durch Datamining per KI herausfinden, dass bei Menschen mit neu diagnostiziertem Typ-2-Diabetes etwa 10 % der Patienten für etwa 68 % der Ausgaben und die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens verantwortlich sind [Maguire 2017].

Epidemiologie

KI kann sowohl die Anzahl von Menschen mit Diabetes aus großen Datenbanken identifizieren, Prognosen für den weiteren Verlauf der Inzidenz und Prävalenz modellieren, neue Risikofaktoren für Diabetes ermitteln als auch den Verlauf des Diabetes monitoren (Surveillance). Ein interessanter Ansatz zur Identifizierung von Typ-2-Diabetes-Fällen ist zum Beispiel die retrospektive Analyse von Daten aus der Datenbank des European-Medical-­Information-­Framework-Projekts, eines europäischen Projekts zur effizienten Wiederverwendung von Gesundheits-Daten für die epidemiologische Forschung. In dieser Datenbank werden gezielt Gesundheits-Informationen von ca. 52 Millionen europäischen Bürgern aus heterogenen Quellen gesammelt. Patienten mit Typ-2-Diabetes wurden mithilfe einer komplexen Algorithmus-Strategie aus acht verschiedenen Gesundheits-Daten-Quellen identifiziert [Roberto 2016].

Prävention des Diabetes

Für die Prävention des Typ-2-Diabetes gibt es mittlerweile eine ganze Reihe unterschiedlicher KI-Strategien, die sich sowohl auf das Erkennen von Risikofaktoren, das Abschätzen des Diabetes-­Risikos, die Diagnose und Prognose des Typ-2-Diabetes, aber auch die Unterstützung von Interventionen zur Verhaltens- und Verhältnis-Prävention beziehen. Eine Vielzahl von Studien hatte durch KI-Ansätze versucht, aus verschiedenen Daten-Quellen (z. B. Routinedaten, Health Records, Ergebnisse von Risikotests) Algorithmen zu entwickeln, die das Risiko für einen Typ-2-Diabetes quantifizieren sollen. In einer sehr umfangreichen Arbeit konnte eine griechische Arbeitsgruppe zeigen, dass es für eine multifaktorielle Erkrankung wie Typ-2-Dia­betes, für die eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren als mögliche Auslöser in der Literatur identifiziert wurden, sinnvoll ist, möglichst viele dieser Faktoren aus Daten mithilfe von verschiedenen KI-Modellen zu extrahieren. Damit soll die Vorhersagekraft für die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes erhöht werden [Fazakis 2021]. Die Integration von 62 Variablen in das Modell (z. B. Beziehungs-Status, Schlaf-Qualität, Stress bei der Arbeit) erbrachte bessere Ergebnisse als die parallel getesteten Risiko-Tests (FINDRISK, Leicester Practice Risk Score, Diabetes Risk Scores). Dies kann zum einen nützlich sein, um die Gewichtung und Vorher­sage-­Wahr­scheinlichkeit der einzelnen Faktoren bestimmen zu können, aber auch, um Hochrisiko-Gruppen zu identifizieren, die von Präventions-Ansätzen besonders profitieren. Besonders bedeutsam sind auch Strategien zur Identifizierung von Personen mit einem hohen Risiko für Dia­betes-Komplikationen. KI-Anwendungen werden auch erfolgreich bei digitalen Interventionen zur Prävention des Typ-2-Diabetes mit dem Ziel einer nachhaltigen Lebensstil-Intervention eingesetzt, ebenso für Maßnahmen der Verhältnis-Prävention (siehe die Artikel zur digitalen Prävention in den D.U.T-Reports 2019, 2020, 2021).

KI-Anwendungen ­werden erfolgreich bei digitalen ­Interventionen zur Prävention des Typ-2-Diabetes ­eingesetzt.

Multimorbidität

Der Erfolg der Therapie des Diabetes hängt gleichermaßen von genetischen, biologischen, sozialen und psychischen Faktoren ab, die langfristige Prognose der Erkrankung auch von zahlreichen unterschiedlichen Risikofaktoren, Begleit- und Folgeerkrankungen. Mit anderen Worten: Diabetes ist eine multimorbide Erkrankung mit einer Vielzahl von Einfluss-Faktoren, die in unterschiedlicher Stärke und diversen Kombinationen jeweils in den verschiedenen Phasen des Diabetes wirksam werden. Ähnlich wie bei dem Ansatz der griechischen Arbeitsgruppe zur Prävention des Typ-2-Dia­betes [Fazakis 2021] ist es bei multimorbiden, multifaktoriellen Erkrankungen wie Diabetes hilfreich, mit einem KI-Ansatz die verschiedenen Faktoren zu analysieren, um alle möglichen Wechselwirkungen zu erkennen und berücksichtigen zu können. In einem Übersichtsartikel beschreiben Majnarić et al. [Majnarić 2021] den bislang vorherrschenden „traditionellen reduktionistischen Ansatz“, wonach die organisatorischen Abläufe der derzeitigen Gesundheitssysteme in der Regel auf eine einzige Krankheit zugeschnitten sind. Sie schlagen hingegen eine „interaktive Forschung und Behandlung“ auf der Basis von Health Records vor, in der effiziente KI-Ansätze, insbesondere Deep Learning, in der klinischen Praxis direkt in die Arbeitsabläufe des medizinischen Fachpersonal integriert werden. In Deutschland wären dies Daten von der elektronischen Patientenakte (ePA) oder der elektronischen Diabetesakte (eDA).

KI kann ­eingesetzt ­werden, um zu ­ermitteln, welche ­Patientengruppen mehr Aufmerksamkeit ­benötigen.

In dem italienischen Positionspapier [Musacchio 2020] wird auch beschrieben, dass die exponentielle Zunahme von Wissen und neuen Technologien, die zunehmende Komplexität der Aufgaben – vor allem auch in Hinblick auf administrative Aspekte – Angehörige von Gesundheitsberufen zunehmend überfordert, sodass zu wenig Zeit für die eigentlich wichtige Arbeit mit den Patienten bleibt. Neue Informations-Technologien und KI-Anwendungen haben das Potenzial, in der klinischen Praxis Entscheidungshilfen zu bekommen und die Zeit zu reduzieren, die im Gesundheitsbereich Tätige mit der Sammlung von Daten oder dem Einsatz von Maschinen verbringen, sodass sie sich mehr auf den Entscheidungs-Prozess konzentrieren können, wodurch die Behandlung gleichermaßen effektiver und effizienter werden kann. Sie zitieren eine Arbeit einer amerikanischen Arbeitsgruppe, die zeigen konnte, dass die Kosten für die Versorgung durch den aktiven Einsatz von kontinuierlichem Glukosemonitoring (CGM) und einem damit verbundenen Arzt-Entscheidungs-System stetig gesenkt werden konnten. Diese Kostensenkungen waren in erster Linie auf geringere Diabetes-bezogene und bürokratische Dienstleistungen zurückzuführen, unabhängig von der spezifischen Erkrankung, und sie waren proportional zur Häufigkeit der Nutzung digitaler Hilfsmittel [Whaley 2019].

Risikostratifizierung

Darüber hinaus könnten auf KI basierende prädiktive Analysetechniken eingesetzt werden, um zu ermitteln, welche Patientengruppen mehr Aufmerksamkeit benötigen und welche Therapie-Strategien für den einzelnen Menschen im Sinne einer Präzisionsmedizin besonders wirksam sind. Dies ermöglicht effizientere Methoden der persönlichen Therapie mit geringeren Kosten und besseren Ergebnissen. Dieses Konzept der Risiko-Stratifizierung, welches alle individuellen Merkmale des Patienten berücksichtigt (d. h. klinische Aspekte, genetische Daten, Lebensstil, Umweltfaktoren, soziale Faktoren, Health Beliefs), ist Grundlage eines modernen Modells der klinischen Steuerung, welches auch als „Popula­tion Health Management“ bezeichnet wird. Aktuell erfolgt die Risiko-Stratifizierung primär durch die Extraktion historischer Daten (z. B. stationäre und ambulante Aufnahmen, Diagnosen, Arzneimittel-Ausgaben), die mit einer Reihe von Verzerrungen behaftet sind. Denn diese weisen oft eine schwache klinische Validität auf und es gibt sehr häufig eine zeitliche Diskrepanz zwischen der Extraktion, der Analyse und dem aktuellen Gesundheitszustand. Regelhaft fehlen zumeist Informationen über wichtige andere Einflussfaktoren der Gesundheit, die bei Diabetes einen sehr großen Einfluss haben und einen hohen Varianzanteil der Pro­gnose erklären wie die sozioökonomische Situation oder eine Vielzahl von Variablen, die das Therapieverhalten von Menschen mit Diabetes beeinflussen. Auf diese Weise stellen die traditionell erhobenen Daten eher eine „befriedigte Nachfrage“ als einen „tatsächlichen Bedarf“ dar [Musacchio 2020]. Die neue Herausforderung besteht in der Nutzung von Informations-Technologien, Big-Data-Analysen, KI, die auf der Ebene der klinischen Praxis durch die automatische Aktivierung von Risiko-Stratifizierungs-Modellen im klinischen Entscheidungs-Prozess diesen optimieren. Auf der gesellschaftlichen Ebene helfen Modelle zur Risiko-Stratifizierung, den tatsächlichen Bedarf von medizinischen Leistungen neu zu bewerten und damit Personengruppen zu identifizieren, die bislang unter- oder auch überversorgt wurden.

Diagnostik

Die Diagnose von Folge- und Begleiterkrankungen mithilfe von KI bietet Menschen mit Diabetes zum einen die Chance einer personalisierten Diagnose, oft auch verbunden mit einer individuellen Prognose, für Ärzte eine zusätzliche Quelle für klinische Entscheidungen. Mittlerweile existieren für fast jede Begleit- und Folgeerkrankung des Diabetes KI-unterstützte Dia­gnostik-Verfahren, die auch immer mehr Einzug in den klinischen Alltag finden (siehe auch D.U.T-Reports 2019, 2020, 2021). Allerdings haben sie aufgrund der verwandten Trainings-Daten oft nur regionale Gültigkeit und werden daher noch selten flächendeckend eingesetzt. Am häufigsten werden in der klinischen Routine KI-Modelle zur Retinopathie-­Diagnostik eingesetzt. Hier wurden zahlreiche unterschiedliche Anwendungen mittlerweile von der amerikanischen (Food and Drug Administration, FDA) oder europäischen Zulassungsbehörde (European Medicines Agency, EMA) für den Einsatz in der klinischen Routine zugelassen. Allerdings zeigt die schon erwähnte Studie von Lee et al. [Lee 2021], dass die Treffsicherheit von Bilderkennungs-Systemen bei der Beurteilung Alltags-typischer Netzhaut-Fotos von Patienten mit Diabetes mellitus in der klinischen Praxis noch nicht zufriedenstellend ist.

Zur Optimierung ­können Algorithmen durch KI-Modelle aus Daten aus der Vergangenheit lernen.

In einem systematischen Review untersuchte eine Arbeitsgruppe aus Singapur [Yin 2021], welche KI-Anwendungen in der klinischen Praxis evaluiert wurden. Die Forscher identifizierten 51 Studien, von denen nur 13 ein randomisiertes, kontrolliertes Studiendesign, 8 ein experimentelles Design aufwiesen. Die KI-Anwendungen untersuchten vor allem die Bereiche Screening oder Triage (n = 16), Dia­gnostik (n = 16), Risikoanalyse (n = 14) und Behandlung (n = 7). Die am häufigsten behandelten Indikationen waren Sepsis (n = 6), Brustkrebs (n = 5), diabetische Retinopathie (n = 4) sowie Polypen und Adenome (n = 4). Die Autoren schlussfolgern, dass KI-Anwendungen einen wertvollen Beitrag für die moderne Medizin leisten, jedoch vor der Anwendung in der klinischen Praxis auch mit angemessenen Studiendesigns evaluiert werden sollten.

Therapie des Diabetes

Eine sehr wichtige Rolle spielen KI-Anwendungen bei der Entwicklung von adaptiven Steuerungs-Algorithmen, um noch genauer wirkende AID-Systeme zu entwickeln. Denn obwohl die AID-Systeme in den letzten Jahren die Therapie des Diabetes deutlich verbessert haben, sind die kommerziellen Hybrid-AID- und andere Systeme noch weit davon entfernt, ein vollständig optimiertes automatisiertes Diabetes-Management-Tool zu sein. Um die noch bestehenden Limitationen vorhandener (­Hybrid-)AID-Systeme zu überwinden, planen deren Entwickler, zukünftig individuelle Glukose- und Therapie-Muster automatisch durch KI-Modelle zu erkennen, daraus zu lernen und selbstständige Schlussfolgerungen im Sinne einer selbststeuernden Glukose-Adaptation zu ziehen [Giménez 2021]. Zur Optimierung der Glukose-Steuerung sollen zukünftig auch vermehrt Daten aus anderen Quellen (z. B. Ausmaß an körperlicher Bewegung, Schlaf, Menstruation, Stress) in die Modelle integriert werden, um die Güte der Vorhersage zu erhöhen. Eine weitere Möglichkeit zur Optimierung der Algorithmen durch KI-Modelle besteht darin, dass diese aus Daten aus der Vergangenheit lernen, um die zukünftige Entwicklung der Glukose-Spiegel für einen bestimmten Zeithorizont vorherzusagen und einer zu großen Glukose-Variabilität proaktiv entgegenzusteuern bzw. diese abzumildern. KI-Modelle werden zunehmend auch in Arzt- oder Patienten-Entscheidungs-Systeme inte­griert. Ein Beispiel hierfür ist ein KI-gestütztes Programm für Allgemeinärzte zur Initiierung einer Insulintherapie, die die Entscheidung von Allgemeinärzten in Japan deutlich verbesserte und von diesen als eine sehr wertvolle Unterstützung wahrgenommen wurde [Fujihara 2021].

Diabetes-Schulung

Neue Schulungsformen, die sich mit dem Bedürfnis nach schnellen Informationen zum Dia­betes-Selbstmanagement in bestimmten Situationen auseinandersetzen („Schulung on demand“), nutzen KI-Modelle zum schnellen Suchen der relevanten Informationen und zur Spracherkennung und -ausgabe. Auch ist es nur eine Frage der Zeit, bis es Alexa-Diabetes, Siri-Diabetes oder Google-Assistant-Diabetes bzw. ähnliche KI-gesteuerte Expertensysteme geben wird. Auch für virtuelle Schulungs-Formen, z. B. mit „Augmented Reality“ (AR), „­Mixed Reality“ (MR) oder „Virtual Reality“ (VR), bei der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer für die Schulung eine VR-Brille benutzen, werden KI-Anwendungen benötigt. KI-Modelle können auch dafür genutzt werden, um Schulungs-Inhalte zu personalisieren bzw. an die besonderen Bedürfnisse einer Person (z. B. Sprache, Bildungsstand, einfache Sprache, Vorliebe für Texte, visuelle Elemente) anzupassen. In einer Untersuchung von Bonet et al. [Bonet 2021] zu den spezifischen Design-Anforderungen von Diabetes-Schulungen für unterversorgte Bevölkerungsgruppen, mit dem Ziel, die Akzeptanz, Benutzerfreundlichkeit und Nachhaltigkeit von Schulungs-Maßnahmen für diese Zielgruppe zu erhöhen, wurden von den Befragten vor allem folgende Punkte als wichtig erachtet: Berücksichtigung der Sprache, des Sprachniveaus, von Rechenkenntnissen, der digitalen Gesundheitskompetenz, der Komplexität der Daten-Eingabe und des Zugangs zu der Schulung, der Daten-Visualisierung und Möglichkeiten des Informations-Austauschs. KI-Modelle können zudem routinemäßig zur Evaluation des Schulungs-Stands von Menschen mit Diabetes eingesetzt werden, um dann entsprechend einem kontinuierlichen, zielgerichteten Schulungs-Ansatz spezifische Schulungs-Elemente anzubieten.

Zusammenfassung

KI wird einen Paradigmenwechsel in der Diabetes-Versorgung einleiten, weg von konventionellen Behandlungs-Strategien hin zu einer gezielten, Daten-gesteuerten Präzisionsmedizin. Dies kann für Menschen mit Diabetes eine große Unterstützung darstellen, da die Behandlung dank KI personalisierter und besser an die Wünsche, Ziele und Bedürfnisse der Betroffenen angepasst erfolgen kann. Die weitere Entwicklung von KI-Modellen wird aber vor allem davon abhängen, ob neben den Chancen auch mögliche Risiken von KI bedacht werden. Hier können die Empfehlungen des Berichts der WHO zur Ethik und der Steuerung von KI wichtige Leitsätze darstellen.


Literatur:

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Autor:

Prof. Dr. Bernhard Kulzer
Forschungsinstitut Diabetes-Akademie Bad Mergentheim (FIDAM), Diabetes Zentrum Mergentheim, Theodor-Klotzbücher-Straße 12, 97980 Bad Mergentheim