Prof. Dr. Bernhard Kulzer

Big Data und künstliche Intelligenz

Beim Diabetes fällt eine immer größer werdende Zahl komplexer Daten an, die völlig neue Möglichkeiten eröffnen. Und die „künstliche Intelligenz“ ist ein Megatrend mit schon heute überragendem Interesse – auch in der Diabetologie. Im Artikel werden konkrete Beispiele benannt, Ergebnisse aus Studien vorgestellt und ethische Fragen aufgeworfen.

Nach Schätzung von Computerfachleuten sind rund ein Drittel aller Daten, die auf der Welt erhoben werden, Gesundheitsdaten: Laborwerte, Vitalparameter, Biomarker, Verhaltensparameter, Gensequenzen, Befunde jeder Art, Informationen und Konversation über Gesundheitsthemen … Insgesamt sind es schon jetzt mindestens 150 Exabyte – eine unvorstellbar große Zahl, die vom menschlichen Intellekt nicht mehr zu begreifen ist.
Immer mehr komplexe Diabetes-Daten

Auch beim Diabetes fällt eine immer größer werdende Zahl komplexer Daten aus unterschiedlichen Quellen an: durch innovative Technologien wie CGM, Smart-Pens, Wear­ables und neue Untersuchungsmethoden. Diese Daten sind gleichermaßen für Menschen mit Diabetes wie auch für die verschiedensten Akteure des Gesundheitswesens von Bedeutung. In Zukunft wird es immer wichtiger werden, diese große Anzahl von Daten mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI), Algorithmen und selbstlernenden Maschinen sachgerecht zu erfassen, zu analysieren, zu interpretieren und daraus geeignete Schlussfolgerungen zu ziehen. Big Data, Algorithmen und Methoden der künstlichen Intelligenz werden die künftige Diabetesversorgung nachhaltig verändern und hoffentlich das Leben von Menschen mit Diabetes positiv beeinflussen.

Künstliche Intelligenz – ein Megatrend

Schon heute nimmt das Interesse an dem Thema rapide zu. In einem systematischen Review zu dem Thema zeigen Contreras und Vehi auf, dass die wissenschaftlichen Beiträge zu dem Thema „Diabetes“ und „künstliche Intelligenz“ nahezu exponentiell zunehmen und im Jahr 2017 fast 10 000 wissenschaftliche Artikel dazu veröffentlicht wurden [Contreras 2018].

2017: Fast 10 000 wissenschaftliche Beiträge zu „Diabetes“ und „künstliche Intelligenz“ wurden veröffentlicht.

Abb. 1: Wissenschaftliche Publikationen zur künstlichen Intelligenz bei Diabetes [Contreras 2018].

Abb. 1: Wissenschaftliche Publikationen zur künstlichen Intelligenz bei Diabetes [Contreras 2018].

Big Data

Die Vielfalt an Daten, die bei Diabetes entstehen, macht es für konventionelle IT-Lösungen schwierig, die Datenmengen zu erfassen, zu speichern, zu analysieren und zu visualisieren. Neue Analysemethoden, die oft mit „Big Data“ bezeichnet werden, machen es zunehmend möglich, auch komplexe und sich schnell ändernde Datenmengen zu bearbeiten. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für das Entwickeln von Algorithmen, neuen Formen der Forschung und von Anwendungen der künstlichen Intelligenz.

Abb. 2: Identifikation von Subgruppen des Typ-2-Diabetes mit Hilfe von Big-Analysen.

Abb. 2: Identifikation von Subgruppen des Typ-2-Diabetes mit Hilfe von Big-Data-Analysen.

Ein gutes Beispiel für den Nutzen von Big ­Data für eine „Precision Medicine“ – also die Möglichkeit, Patienten präzise entsprechend ihrem individuellen Krankheitsbild zu therapieren – bietet eine amerikanische Studie [Li 2015], die zeigte, dass der Typ-2-Diabetes bei gleichem Blutzucker einen sehr unterschiedlichen Verlauf nehmen kann: Anhand von Netzwerkanalysen von mehr als 11 000 elektronischen Krankenakten (high-dimensional electronic medical records) identifizierten die Autoren drei Subtypen des Typ-2-Diabetes, die sich hinsichtlich des genetischen Hintergrunds und des Verlaufs so deutlich unterscheiden, dass dies unmittelbare therapeutische Konsequenzen haben könnte. Beim Subtyp 1 (ca. 30 %), der den höchsten Body-Mass-Index und die schlechtesten HbA1c-Werte aufweist, stehen mikrovaskuläre Komplikationen im Vordergrund, so dass das Senken des Blutzuckers im Vordergrund der therapeutischen Bemühungen stehen sollte. Die Patienten des Subtyps 2 (ca. 24 %) haben den niedrigsten Body-Mass-Index, aber ein deutlich erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf- und Krebs-Erkrankungen. Der Subtyp 3 (43 %) zeichnete sich neben Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch ein erhöhtes Risiko für mentale Störungen aus. Daher sollte beim Subtyp 2 verstärkt das Krebsrisiko beachtet werden, bei Patienten des Subtyps 3 sollte ebenso an präventive Maßnahmen gegen Angststörungen oder Depressionen gedacht werden.

Mit „Big Data“ werden große Mengen an Daten unterschiedlicher Datentypen und zumeist verschiedener Quellen bezeichnet, die mit speziellen IT-Lösungen gespeichert, verarbeitet und ausgewertet werden.

Auch Versorgungsforschung mit Real-­World-­Daten – von „Small Data“ über „Large Data“ bis hin zu „Big Data“ – wird durch neue Analysesysteme immer besser möglich und erlaubt es, die Effektivität und die Effizienz diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen sowie das erfolgreiche Management der Versorgung unter Alltagsbedingungen zu erforschen. Welche Chancen die Erfassung und Analyse großer Datenmengen für die Versorgungsforschung bringen können, zeigt ein Beispiel aus China: Dort hatten Forscher mit Hilfe einer speziellen Oracle-Datenbank die kompletten Daten von 6 230 000 Patienten (klinische Daten, Dia­gnosen, Medikation) analysiert und die Patienten herausgefiltert, die an Diabetes, Hypertonie oder Depression erkrankt waren [Zhang 2018].

Versorgungsforschung wird mit „Real-World-Daten“ durch neue Analysesysteme immer besser möglich.

Basierend auf den evidenzbasierten Leitlinien wurde analysiert, inwieweit die Medikation leitliniengerecht angewendet wurde. Interessant: Metformin wird bei 28,5 % aller Diabetespatienten in China verschrieben, dicht gefolgt von Acarbose (20,9 %).

Digitales Diabetes-Präventionszentrum

Zum Erforschen personalisierter Präventions- und Therapiemöglichkeiten plant das Deutsche Zentrum für Diabetesforschung (DZD) auch in Deutschland den Aufbau eines digitalen Diabetes-Präventionszentrums (Digital Diabetes Prevention Center, DDPC). Dieses soll zum Ziel haben, anhand von Daten von Millionen Menschen – sowohl Erkrankten als auch Gesunden – in Ergänzung zu kontrollierten Studien im Sinne der „Precision Medicine“ nach Zusammenhängen zu suchen, die es erlauben, personalisierte und individualisierte Therapieansätze zu ermöglichen [Jarasch 2018].

Beispiel Glukosemanagement-Software

Ein gutes Beispiel für die Nutzung von Big ­Data ist auch die Analyse der weltweit erhobenen Daten mit der Glukosemanagement-Software diasend® des Unternehmens Glooko. 2017 wurden mehr als 8 Mrd. (8 479 970 198) Glukosedaten auf den Server hochgeladen, die von dem Unternehmen fortlaufend analysiert werden und natürlich auch eine gute Datenbasis für die Entwicklung von Algorithmen und KI-Anwendungen darstellen [glooko 2017].

[table caption="" width="725" colwidth="50|150|150" colalign="left|left|left"] LAND;DURSCHN. BLUTGLUKOSE (MG/DL | MMOL/L); STANDARD -ABWEICHUNG (MG/DL | MMOL/L) BELGIEN; 157 | 8,7; 50 | 2,8 TSCHECHISCHE REPUBLIK; 165 | 9,1; 61 | 3,4 FRANKREICH; 169 | 9,4; 70 | 3,9 DEUTSCHLAND; 169 | 9,4; 57 | 3,2 SÜDAFRIKA; 172 | 9,5; 67 | 3,7 ITALIEN; 173 | 9,6; 69 | 3,8 SCHWEDEN; 173 | 9,6; 67 | 3,7 KANADA; 175 | 9,7; 62 | 3,4 ISRAEL; 178 | 9,9; 70 | 3,9 FINNLAND; 181 | 10,0; 78 | 4,3 USA; 183 | 10,2; 67 | 3,7 NIEDERLANDE; 184 | 10,2; 80 | 4,4 DÄNEMARK; 185 | 10,2; 75 | 4,2 GROSSBRITANNIEN; 186 | 10,3; 81 | 4,5 AUSTRALIEN; 194 | 10,8; 81 | 4,5 [/table]

Weltweite Auswertung: Unter der Woche treten global am Freitag um 2 Uhr morgens die meisten Hypoglykämien auf, die höchsten Glukosewerte dagegen am Sonntag um 12 Uhr.

Basierend auf den weltweiten Auswertungen kann man folgende interessante Zusammenhänge erkennen:

  • Der 28. September ist im Verlauf des Jahres der Tag, an dem die „Time in Range“ aller Glukosedaten am höchsten ist. Nach der Silvesternacht am 1. Januar ist weltweit die geringste „Time in Range“ zu verzeichnen.
  • Unter der Woche treten global am Freitag um 2 Uhr morgens die meisten Hypoglyk­ämien auf, die höchsten Glukosewerte dagegen am Sonntag um 12 Uhr.
  • Der Sonntag ist generell der Tag mit den höchsten Glukosewerten; am Donnerstag sind die niedrigsten Werte zu finden.
  • Der durchschnittliche Bolus zum Frühstück beträgt weltweit 4,0 E, zum Mittagessen 4,4 E und zum Abendessen 5,8 E.
  • Der mittlere Blutzucker von Patienten aus Deutschland beträgt 169 mg/dl (9,4 mmol/l) und ist damit im Durchschnitt besser als der aus den meisten anderen Ländern. Spitzenreiter im globalen Benchmarking ist Belgien mit 157 mg/dl (8,7 mmol/l).

Künstliche Intelligenz bei Diabetes

Die Entwicklung von Anwendungen der künstlichen Intelligenz („Artificial Intelligence“) bei Diabetes erfolgt in der Regel in mehreren Schritten:

In einem ersten Schritt geht es darum, möglichst große Datenmengen zur Verfügung zu haben, diese zu analysieren, zu verstehen und so auszuwerten, dass dadurch mögliche Zusammenhänge, Muster, Korrelationen oder Trajectories erkennbar werden. Daher bemühen sich Wissenschaftler, aber auch Unternehmen, möglichst viele unterschiedliche Daten zum Diabetes und dessen Behandlung zu bekommen. Daten von Menschen mit Diabetes stellen daher zunehmend einen Wert dar, der auch ökonomisch zu beziffern ist.

  • Im Bereich Diabetes arbeitet beispielsweise das Computerunternehmen IBM mit der Patientenorganisation JDRF zusammen, um zu erforschen, welche Risikofaktoren für die Entwicklung eines Typ-1-Diabetes verantwortlich sind.
  • Sanofi und Google investierten kürzlich große Summen in das Gemeinschaftsunternehmen Onduo, welches unter anderem das Ziel hat, Algorithmen für die automatische Insulindosierung zu entwickeln.

In einem zweiten Schritt werden Algorithmen und Modelle entwickelt, die auf der Basis der vorhandenen Daten Ereignisse vorhersagen:

  • Ein Beispiel dafür ist die heute weltweit von mehr als 4 Mio. Menschen angewendete KI-gestützte Gesundheitsplattform „Ada“, die nach 7 Jahren Entwicklungsarbeit von Ärzten, Wissenschaftlern und Ingenieuren 2016 in einer englischsprachigen Version auf den Markt kam. Seit Oktober 2017 gibt es Ada auch auf Deutsch und wird von dem Berliner Unternehmen „Ada ­Health“ weiterentwickelt, seit 2018 auch von der Techniker Krankenkasse (TK) angeboten. Nutzer können ihre Beschwerden mittels eines KI-gesteuerten Fragenkatalogs eingeben, erhalten dann eine persönliche Vorabdiagnose, und es werden mögliche nächste Schritte aufgezeigt – zum Beispiel, ob sie einen Arzt konsultieren sollten.
    Ada erkennt mehrere tausend Krankheiten und Symptome; als selbstlernendes System profitiert Ada von täglich rund 30 000 neuen Fällen. Aktuell wird in einer Studie der Unikliniken Essen und Gießen/Marburg sogar geprüft, ob sich Ada zur besseren Patientensteuerung in der Notaufnahme einsetzen lässt. Aktuell ist die Implementierung von Ada in Deutschland Gegenstand heftiger Kontroversen zwischen Befürwortern und Kritikern dieses neuen Verfahrens.

Ada erkennt mehrere tausend Krankheiten und Symptome; das selbstlernende System profitiert von täglich 30 000 neuen Fällen.

  • Auf dem ADA-Kongress 2018 wurde erstmals der von den Unternehmen Medtronic und IBM Watson Health CGM entwickelte „Sugar.IQ smart diabetes assistant“ vorgestellt, der für Nutzer des „Medtronic Guardian™ Connect Systems“ entwickelt wurde, die ein iOS-basiertes Mobilgerät besitzen. Mit dem Device werden kontinuierlich der individuelle Glukosespiegel und andere Faktoren, die von den Patienten eingetragen werden (z. B. Ernährung, Insulindosierung), analysiert und automatisch bestimmte Muster erkannt.

In weiteren Schritten lernt ein System auf der Basis von Entscheidungen und deren Konsequenzen selbstständig und optimiert damit ständig die Ergebnisse. Je nach Aufbau verknüpfen intelligente Systeme vorhandene Informationen neu und lernen.

Inspiriert von Neuronen im Gehirn

Eine Möglichkeit besteht in der Anwendung „künstlicher neuronaler Netze“. Inspiriert von den Verbindungen der Neuronen in unserem Gehirn bestehen künstliche neuronale Netze aus einer Ansammlung einzelner Informationsverarbeitungseinheiten (Neuronen), die schichtweise in einer Netzarchitektur mit Verbindungen, Richtungen und Gewichtung der Datenausbreitung angeordnet sind und selbstständiges Lernen ermöglichen.

Tiefergehendes Lernen: Software ­erkennt Muster und verbessert sich selbstständig

Beim „Deep Learning“ geht der Algorithmus noch tiefer und versetzt Computer in die Lage, auch Aufgaben zu lösen, die nicht aus dem Abarbeiten von Gleichungen bestehen. Die Software ist beim „tiefergehenden Lernen“ in der Lage, Muster zu erkennen, kann diese evaluieren und sich in mehreren vorwärts wie rückwärts gerichteten Durchläufen selbstständig verbessern. Aus diesen neuen „Erfahrungen“ kann der Computer lernen und teilweise danach autonom handeln. Damit können neue Informationen in das Modell einfließen, was zu einer immer besseren Anpassung des Systems an neue Umweltbedingungen führt.

Künstliche Intelligenz kommt bereits heute in vielen medizinischen Gebieten zum Einsatz – auch in der Diabetologie.

Künstliche Intelligenz kommt bereits heute in vielen medizinischen Gebieten zum Einsatz – auch in der Diabetologie:

  • Die erste Deep-Learning-Software im Bereich Medizin, die Bild­erken­nungs-Technologie des kalifornischen Start-ups RADLogics, wurde erstmals im April 2012 von der amerikanischen Gesundheitsbehörde (FDA) zur Analyse von Radiologie-Befunden zugelassen. Mittlerweile ist das System in der Lage, sowohl Röntgenbilder als auch CT- und MRT-Befunde in wenigen Minuten zu analysieren. Das System wird aktuell durch eine Cloudlösung („Nuance AI Marketplace“) und ein „Clinical Decision Support System“ („Virtual Resident“) ergänzt. Andere Unternehmen arbeiten daran, virtuelle Biopsien zu erstellen, welche Informationen mit der gleichen Qualität liefern, die ansonsten nur über einen operativen Eingriff und eine anschließende Laboruntersuchung des entnommenen Gewebes gewonnen werden können.
  • Die Software „Cardio DL“ von dem kalifornischen Start-up Arterys ermittelt bei Kardio-MRT-Datensätzen mit Hilfe von Supercomputern mit neuronalem Netzwerk und einem Deep-Learning-Algorithmus die Herzfunktion automatisch und lernt ständig dazu. Bei der reinen Cloudanwendung wird der MRT-Datensatz ohne patientenidentifizierende Daten an ein Computernetzwerk des Unternehmens gesendet, welches für die Analyse ca. 10 bis 15 Sekunden benötigt. „Cardio DL“ ist seit 2016 in Europa und seit 2017 auch von der FDA zugelassen.
  • Mit dem vom Unternehmen Eyenuk entwickelten „EyeArt-System“ werden Patienten auf das Vorliegen einer diabetischen Retinopathie bzw. einer visusbedrohenden Retinopathie untersucht – mit Hilfe von künstlicher Intelligenz und Deep-Lear­ning-Netzhautbildern, die mit einer üblichen Funduskamera von der Netzhaut des Patienten aufgenommen werden. Die Analyse erfolgt über eine Cloud, so dass der Arzt innerhalb von 60 Sekunden das Untersuchungsergebnis erhält. Das EyeArt-System hat eine CE-Kennzeichnung in der Euro­päischen Union und eine Medical Device License von Health Canada und wird in Deutschland am Diabetes Zentrum Mergentheim eingesetzt.

Digitale Analyse gibt Aufschluss über ­persönliches Risiko

  • Seit Januar 2018 setzen die Medizinische Universität Wien und das Allgemeine Krankenhaus Wien (AKH) in der Diabetes-Ambulanz ein selbst­entwickeltes Retinopathie-Screening mit Hilfe künstlicher Intelligenz ein. Mittels optischer Kohärenztomographie (OCT) werden in 1,2 Sekunden 40 000 Scans der Netzhaut durchgeführt und sowohl eine Diagnose wie auch eine Behandlungsmethode vorgeschlagen. Zukünftig ist geplant, weitere Analysen durchzuführen, da die Netzhaut auch Hinweise auf den Gefäß- und Gehirnzustand eines Menschen gibt. Die digitale Analyse hat somit das Potenzial, auch Aufschluss über das persönliche Risiko zu geben, ob und in welchem Ausmaß Folgeerkrankungen des Diabetes zu erwarten sind.
  • Im April 2018 wurde das Device „IDx-DR“ als erstes System zur Anwendung künstlicher Intelligenz zur Retinopathiedia­gnostik bei Diabetes von der amerikanischen Gesundheitsbehörde (FDA) zugelassen. Die Diagnostik erfolgt ebenfalls über eine Cloudlösung mit dem System „TRC-NW400“ vom Unternehmen Topcon.
  • Mit der Methode des „Random forest model“ durchsuchten amerikanische Wissenschaftler einen Datensatz von 35 050 Menschen mit dia­be­tischer Neuropathie und 388 328 ohne Neuropathie, um die Detektionsrate einer diabetischen Polyneuropathie zu ermitteln [DuBrava 2017]. Anhand von Variablen wie dem „Charlson Comorbidity Index“, Alter, Komorbiditäten sowie Versorgungsdaten wie Anzahl der Visiten oder der Medikation konnte ein zufriedenstellendes Vorhersagemodell erreicht werden, was ausschließlich auf der Analyse vorhandener Daten erfolgte.

Frühwarnsystem: den Atem mit Sensoren ­erfassen und systematisch analysieren

  • Britische Forscher haben eine Technologie entwickelt, die den Atem von Menschen mit Diabetes anhand verschiedener Sensoren erfasst und unter Nutzung künstlicher Intelligenz systematisch analysiert. Da im menschlichen Atem sehr frühzeitig Ketonkörper oder die Auswirkungen von Stresshormonen bei Hypoglykämien nachzuweisen sind, die von der menschlichen Nase kaum wahrzunehmen sind, kann dieses System als eine Art Frühwarnsystem für Stoffwechselentgleisungen dienen.

Wissensbasierte Systeme

Eine Anwendung, die viele Menschen durch Sprachassistenten wie „Alexa“, „Siri“ oder „­Google Assistant“ aus dem Alltag kennen, sind wissensbasierte Systeme, die oft auch als Expertensysteme bezeichnet werden. Sie sind in der Lage, Fragen der Anwender auf Grundlage formalisierten, regelbasierten Fachwissens und daraus abgeleiteter logischer Schlüsse zu beantworten. Fortgeschrittene Expertensysteme verknüpfen die Antworten auch mit Vorschlägen für Handlungen („cues to action“) bzw. eigenständigen Handlungsweisen.

Meist wird im Gesundheitsbereich zwischen Expertensystemen unterschieden, die primär auf medizinisches Fachpersonal abzielen oder auf den Patienten.

Expertensysteme für Fachpersonal

Systeme, die Experten des Gesundheitswesens bei der Diagnostik und Therapie unterstützen, werden als „Physician Support Systems“ (PSS), „Clinical Decision Support Systems“ (CDS), „Medical Decision Support Systems“ (MDSS) oder „Clinical Analytics Systems“ (CAS) bezeichnet. Das Grundprinzip dieser Anwendungen ist die Verknüpfung unterschiedlicher medizinischer Informationen über ein Krankheitsbild wie Diabetes mit medizinischen Daten des Patienten und mit Handlungsempfehlungen, die beispielsweise auf wissenschaftlichen Leitlinien basieren [Cahn 2018]. Im einfachen Fall greift ein Expertensystem auf die Patientendaten eines Menschen mit Diabetes in der diabetologischen Praxis zu, vergleicht diese mit Erkenntnissen aus der diabetologischen Fachliteratur und nationalen wie internationalen Diabetes-Leitlinien und gibt daraufhin – entsprechend den Anforderungen des Experten – individuelle Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie.

Am bekanntesten sind Anwendungen des Supercomputers Watson von IBM, der die Datenanalyse mit künstlicher Intelligenz und Cloud-Computing vorangetrieben hat und vor allem dadurch bekannt geworden ist, dass er in Quizshows alle Menschen aus dem Feld geschlagen hat. Im Diabetesbereich kooperieren Unternehmen wie Novo Nordisk und Medtronic mit IBM Watson Health, um verschiedene Anwendungen eines „virtuellen Arztes“ zu entwickeln, die die Therapie des Diabetes optimieren sollen. Im Moment ist Watson aber auch ein Beispiel für zu hohe Erwartungen an den „Supercomputer“, da die konkreten Ergebnisse im Gesundheitsbereich eher enttäuschend sind und Watson Health die Erwartungen von Experten bislang nicht erfüllen konnte.

Erwartungen der Experten noch nicht erfüllt

In einem systematischen Review über „Clinical Decision Support Systems“ im Bereich Dia­betes [O’Connor 2016] kommen die Autoren zu dem Schluss, dass die bestehenden Systeme noch nicht häufig genutzt werden. Als Barrieren identifizieren sie vor allem die mangelnde Zuverlässigkeit und das mangelnde Vertrauen der Nutzer in die bisherigen Systeme, mangelnde Datenqualität und Integration in den Workflow der Anwender, zu hohen Zeitaufwand und technische Probleme im Alltagsbetrieb. Als wichtige Faktoren für eine bessere Akzeptanz nennen sie die Priorisierung auf Patientengruppen, die den höchsten Nutzen von dem System haben, auf die Integration der aktuellen Leitlinien und das Einbeziehen von Zielen der Patienten.

Die Art, wie Patienten sich zu Diabetesthemen informieren, hat sich durch die Digitalisierung fundamental verändert.

Die Art, wie Patienten sich zu Diabetesthemen informieren, hat sich durch die Digitalisierung bereits fundamental verändert und wird sich in Zukunft durch Expertensysteme und Anwendungen der künstlichen Intelligenz weiter verändern. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es „Alexa-Diabetes“, „Siri-Diabetes“ oder „­Google Assistant Diabetes“ bzw. ähnliche Expertensysteme zu Fragen rund um den Diabetes geben wird. Entsprechende Entwicklungen sind schon weit vorangeschritten – und für Patienten sicher ein vernünftiger Ansatz, wenn diese Systeme auch tatsächlich qualitätsgesicherte und in den verschiedensten Situationen nützliche Informationen vermitteln.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es „Alexa-Diabetes“, „Siri-Diabetes“ oder ähnliche Expertensysteme zu Fragen rund um den Diabetes geben wird.

Einen Schritt weiter gehen Expertensysteme, die nicht nur Informationen oder Kenntnisse über den Diabetes vermitteln, sondern eine Hilfe zur Therapiesteuerung geben.

  • Ein Beispiel für ein „Patient-Support–Programm“ ist das „AdviceDevice“ des deutschen Unternehmens SINOVO, das dieses in Zusammenarbeit mit dem Diabetologen Dr. Bernhard Teupe sowie etlichen hundert Typ-1-Diabetikern mit Insulinpumpentherapie entwickelt, die sich in Form eines Crowdfunding an der Entwicklung beteiligt haben. Auf verschiedenen IT-Geräten können Träger einer Insulinpumpe entsprechend einem hinterlegten, selbstlernenden Regelwerk dia­be­tologische Therapievorschläge bekommen.
  • Hybrid-Closed-Loop-Systeme sind eine besondere Form von „Clinical-Support-Systemen“ für Patienten. Nach der MiniMed 670G von Medtronic wurde im November 2018 dem französischen Start-up Diabeloop die CE-Kennzeichnung für sein Hybrid-Closed-Loop-System DBLG1™ zuerkannt. Das DBLG1™ ist mit einem Sensor zur kontinuierlichen Glukosemessung (Dexcom G6) und einer Insulin-Patchpumpe (Kaleido) verbunden und steuert über künstliche Intelligenz die Insulinpumpe und damit den Glukoseverlauf. Der Patient muss aktiv mitarbeiten (z. B. Eingabe der Mahlzeitenmenge) und kann steuernd eingreifen.

Der Begriff „Robotik“ beinhaltet den Entwurf, die Gestaltung, die Steuerung und den Betrieb von Robotern.

Robotik

Eine Anwendung künstlicher Intelligenz besteht in der Steuerung von Robotern, die intelligente Verhaltensweisen von Lebewesen nachvollziehen können, kommunizieren und Menschen bei Tätigkeiten entlasten. In zwei EU-Projekten, an denen das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (­DFKI) beteiligt ist, wird untersucht, ob Roboter als Lebens- und Therapiebegleiter Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes dabei unterstützen können, ihre Krankheit zu verstehen und selbst zu managen.

Abb. 4: Soziale Interaktion zwischen Roboter und Kindern im Projekt ALIZ-E; Foto: ALIZ-E project

Abb. 4: Soziale Interaktion zwischen Roboter und Kindern im Projekt ALIZ-E; Foto: ALIZ-E project

In dem EU-Projekt ALIZ-E (2010 – 2014) wurde erforscht, wie soziale Roboter Kinder im Umgang mit der Krankheit unterstützen können. Ein ca. 60 cm großer humanoider Roboter vermittelt zusätzliches Wissen über die Erkrankung, soll die Motivation zum Selbstmanagement erhöhen und die Schulung auflockern. Außerdem regt der Roboter die Kinder dazu an, über ihre Krankheit zu sprechen.

In dem daran anschließenden Projekt PAL („PAL Personal Assistant for a healthy ­Lifestyle“) (2015 – 2019) wurde der Roboter mit Namen „Pepper“ weiterentwickelt. Er kann jetzt Emotionen erkennen, hält Frage-und-Antwort-Spiele bereit, stellt Aufgaben, die sich an alltäglichen Lebenssituationen mit Diabetes orientieren, und legt gemeinsam mit den Kindern Ziele fest. Therapieempfehlungen gibt er nicht.

Ethische Herausforderungen

Der Einsatz künstlicher Intelligenz in der Dia­be­tologie ist mit einer Reihe offener Fragen und Herausforderungen verbunden, die gleichermaßen eine allgemeine gesellschaftliche Debatte über den Einsatz künstlicher Intelligenz erfordern, aber auch einen offenen Diskurs unter den Anwendern in der Diabetologie und Patienten. Neuere Fortschritte im Bereich des Deep Learning zeigen, welches Potenzial KIs haben können. Diese rasanten Fortschritte werden von der Bevölkerung meist mit einem staunenden und einem furchtsamen Auge wahrgenommen. Der Physiker und Nobelpreisträger Stephen Haw­king warnte bereits mehrfach vor dieser Entwicklung, die auf die „Technologische Singularität“ zusteuert – der Moment, an dem KIs sich selbst derart schnell weiterentwickeln, dass ein Einschreiten des Menschen in diese Entwicklung nicht mehr oder nahezu nicht mehr möglich ist. Es muss auch darüber diskutiert werden, wem die Daten gehören, wie die Datensicherheit gewährleistet werden kann und wer für einen Missbrauch der Daten haftet. Die Frage der Haftung betrifft auch die Anwendung von Algorithmen, die nach Möglichkeit offengelegt und wissenschaftlich untersucht werden sollten, bevor sie Anwendung finden. Da die Anwendung künstlicher Intelligenz die bisherigen diabetologischen Behandlungsstrukturen stark verändern wird, sollte auch darüber diskutiert werden, welche Vor- und Nachteile mit diesen disruptiven Prozessen verbunden sind und welche Auswirkungen dies auf die Beziehung von Menschen mit Diabetes zu diesen wahrscheinlich bald neuen Gesundheitsanbietern haben wird. Künstliche Intelligenz wird aber auch dazu führen, dass Menschen mit Dia­betes bei dem Umgang mit ihrer Erkrankung entlastet werden und im Idealfall eine tatsächliche oder artifizielle Heilung vom Diabetes möglich ist.


Quellen:

  1. Contreras I, Vehi J: Artificial Intelligence for Diabetes Management and Decision Support: Literature Review. J Med Internet Res 2018; 20: e10775
  2. Li L, Cheng WY, Glicksberg BS, Gottesman O, Tamler R, Chen R, Bottinger EP, Dudley JT: Identification of type 2 diabetes subgroups through topological analysis of patient similarity. Sci Transl Med 2015; 7(311): 311ra174
  3. Zhang X, Wang L, Miao S, Xu H, Yin Y, Zhu Y, Dai Z, Shan T, Jing S, Wang J, Zhang X, Huang Z, Wang Z, Guo J, Liu Y: Analysis of treatment path­ways for three chronic diseases using OMOP CDM. J Med Syst 2018; 42: 260
  4. Jarasch A, Glaser A, Häring H, Roden M, Schürmann A, Solimena M, Theiss F, Tschöp M, Wess G, Hrabe de Angelis M: Mit Big Data zur personalisierten Diabetesprävention. Diabetologe 2018; 14: 486 – 492
  5. glooko: Annual Diabetes Report 2017. https://get.glooko.com/rs/352-OEL-682/images/Glooko%20Annual%20Diabetes%20Report%202017.pdf (Zugriff: 18.12.2018)
  6. DuBrava S, Mardekian J, Sadosky A, Bienen EJ, Parsons B, Hopps M, Markman J: Using Random Forest Models to Identify Correlates of a Diabetic Peripheral Neuropathy Diagnosis from Electronic Health Record Data. Pain Med 2017; 18: 107 – 115
  7. Cahn A, Akirov A, Raz I: Digital health technology and diabetes management. J Diabetes 2018; 10: 10 – 17
  8. O‘Connor PJ, Sperl-Hillen JM, Fazio CJ, Averbeck BM, Rank BH, Margolis KL: Outpatient diabetes clinical decision support: current status and future directions. Diabet Med 2016; 33: 734 – 741

Autor:

Prof. Dr. Bernhard Kulzer
FIDAM GmbH, Forschungsinstitut Diabetes-Akademie Bad Mergentheim, Johann-Hammer-Str. 24, 97980 Bad Mergentheim